Montag, 31. März 2014

Gerhard


 (Quelle: Tumblr)
 
Die Farben waren kräftig, das dicke dunkle Rot auf der riesigen Leinwand löste etwas in mir aus. Blut, Ketchup, Lava, ich war unsicher an was es mich erinnerte, aber ich schaute das Bild fasziniert an. Vorsichtig berührte eine Hand meine Schulter, jemand hinter mir nannte mich fragend und leise bei meinem ganzen Namen. Ich drehte mich um und schaute in ein bekanntes Gesicht. Es war ein Jahrzehnt vergangen, in dem ich ihn nicht gesehen hatte. Er schien nicht älter geworden zu sein, ich erkannte ihn sofort. Nochmals wiederholte er meinen Vor- und Nachnamen. Ich schüttelte den Kopf und sagte: "Nein, ich heiße jetzt Siewert mit Nachnamen". Er verstand sofort und sagte: "Oh, Glückwunsch", deutete dann auf meinen Finger. "Kein Ring?", fragte er lächelnd. Seine Aufmerksamkeit erstaunte mich, ich schwieg kurz, dann sagte ich: "Nein, kein Ring".

Sonntag, 23. März 2014

Busfahren II

Ich habe meinen Lieblingsplatz im Bus. So, wie andere Leute ihren Lieblingsplatz im Kino oder Theater haben. Ich sitze gern hinten rechts, so kann ich alles beobachten. Denn man weiß nie, in welchem Film man nun landet, wer am Lenkrad Regie führt und durch beabsichtigt heftiges Bremsen oder rasante Kurven die Dynamik des Stücks vorgibt. Zwischen Zuschauern und Schauspielern kann man nicht unterscheiden. Aber jederzeit kann man den Stop-Knopf drücken und einfach aussteigen, wenn man keine Lust mehr hat.

Der Abend ist ruhig. Mein Kopf lehnt an der Scheibe, ich schaue nach draußen und beobachte die vorbei ziehenden Lichter der Stadt. Männlicher Nachwuchs mal vier steigt ein und setzt sich um mich herum - das Stück beginnt sofort: Sie reißen sich die Kleider vom Leib und präsentieren einander ihre verzweifelt erkämpften Muskeln an den noch nicht ausgewachsenen dünnen Ärmchen.
Jeder ist einseitig am Ohr verkabelt, es mutet professionell an. Während sie also nervös und halb entblättert auf ihren Sitzen umher rutschen, endet die erste Szene.

Szene zwei beginnt mit wilden Gesten und Mündern, die sich auf und zu bewegen. Die geformten Laute kann ich nicht als Worte verstehen, aber sie werden durch wilde Handbewegungen unterstrichen, sodass ich annehme, dass sie sich auf Gebärdensprache unterhalten. Ich will schon begeistert applaudieren, da merke ich, dass ich mich irre.
Jeder versucht mühevoll, die Musik, die in ihre Ohren hinein wummert, möglichst originalgetreu wiederzugeben. Das Scheitern macht einen wichtigen Bestandteil dieser Aufführung aus, und ich frage mich, ob sie ihre Handlungen absichtlich so überziehen um den Zuschauer zu belustigen. Jedoch sind sie so ernsthaft bei der Sache, dass ich diesen Gedanken verwerfe.

In Szene drei wird eine lange Zeit geschwiegen. Dann holt einer Lederhandschuhe hervor und bindet sie sich mit einem eigens daran genähten Klettverschluss zu. Während dessen wirft sein Gegenüber immer wieder verwirrte Wortfragmente ein, reißt die Augen dabei weit auf und scheint seinen soufflierten Text bereits beim Aussprechen wieder vergessen zu haben.

Eine erstaunliche Wendung tritt in Szene vier ein: Der Lederhandschuhboy zieht ein Butterflymesser aus der Jackentasche hervor, traut sich jedoch nicht seine einstudierte Messerakrobatik dem erlesenen Publikum in voller Performance zu präsentieren. Es bleibt bei einer heimlichen Handbewegung, dem unachtsamen Zuschauer beinahe verborgen.

Enttäuscht drücke ich den Stop-Knopf. Als ich gehe, lächle ich dem Sängerknaben aufmunternd zu, doch er scheint mit meinem Feedback bereits überfordert. Dann schließen sich die Bustürvorhänge hinter mir, während das Ensemble weiter in die Nacht hinaus fährt und für den großen Auftritt probt.

Freitag, 14. März 2014

Sankt Petersburg I

06.05.2013

Der Geruch der Metro brennt sich in deiner Nase ein. Bevor du die Metro siehst, riechst du sie schon. Eine Mischung aus Treibstoff, muffigem Keller und Halogenlicht.

Hier findet die beste Verkaufssendung statt, die du je gesehen hast. Da steigt einer mit 'ner Trainingstasche ein - und darin befindet sich ein Pappkarton, in dem er Kartoffeln, Möhren und Kohl versteckt hat. Und dann nimmt er sein Multifunktionsmesser aus 1-A-Plastik und zeigt, wie man damit Gemüse schneiden kann. Ein anderer versucht Handys zu verkaufen, ist aber nicht so überzeugend wie der Messerverkäufer. Weniger Perfomance und flammende Rede. An der nächsten Station steigt er wieder aus. Und verschwindet mit Gemüseresten im Untergrund.

Sonntag, 9. März 2014

Herz 10


Die Luft kriecht verheißungsvoll in meine Nase und macht mich süchtig. Jeder Atemzug wird zum Vergnügen, ich bekomme das Lächeln nicht aus dem Gesicht.
Der Frühling stand heute Morgen überraschend vor der Tür, wollte nicht reinkommen. Hatte Blumen in der Hand und sein Parfum wehte mir verführerisch entgegen. Er zog mich nach draußen und ich konnte, nein, wollte mich nicht wehren als er nach meiner Hand griff. Und dann taten wir das, was wir immer tun, wenn er sich in seiner Umtriebigkeit in meine Straße verirrt. Wir spazierten durch die Stadt, genossen still das Glück, wieder zusammen zu sein. Dieses Jahr ist er früher als sonst bei mir aufgetaucht. Manchmal frage ich mich, ob er mich wohl auch vermisst, während er durch die Länder reist und die Menschen mit seinem Charme verzaubert. Auf dem Heimweg wurde er langsamer. An meiner Türschwelle hielt er inne. Ich fragte ihn schüchtern, ob er noch mit hoch kommen möchte. Aber er schüttelte den Kopf, küsste mir die Stirn und ging. Ich schaute ihm hinterher, er drehte sich nochmal um: "Ich komme wieder", sagte er. "Wann?", fragte ich. Aber er zuckte nur grinsend mit den Schultern.


Freitag, 7. März 2014

Mitfahrgelegenheit



Der Himmel über der Stadt ist grau. Ich stehe auf diesem viel zu kleinen Parkplatz in bester Lage und beobachte die Autos. Sie kommen an, fahren weg, parken sich zu, rangieren. Die Türen und Klappen sind scheinbar wahllos geöffnet. Menschen stehen davor, stopfen erst ihre Sachen und schließlich sich selbst in die kleinen Blechdosen auf Rädern.

Meine Tasche ist schwer, meine Hände sind kalt, und mein Blick wandert ungeduldig hin und her. Der Bahnhof und sein Minutentakt sind nur wenige Meter entfernt. Ich höre die Züge, könnte jetzt am richtigen Gleis stehen und wüsste, wann mein Zug einfährt, wann er abfährt, durch welche Städte er fährt, wann ich schließlich ankomme, wie lang die Fahrt dauert und könnte entscheiden, zu wem ich mich setze, oder zumindest, zu wem ich mich nicht setze.

Stattdessen stehe ich hier und warte. Warte auf ein Auto, das mich mitnimmt und irgendwann irgendwo wieder ausspuckt.
Ich bin nicht allein. Neben mir steht eine Frau mit Rollkoffer, die auf ihrem Handy herum tippt. Ein Junge mit schwarzer Mütze und Kopfhörern. Ein Mann mit Einkaufstüten. Zwei Mädchen mit großen Rucksäcken. Vielleicht sitze ich gleich neben ihnen, vielleicht auch nicht. Immer, wenn ein neues Auto ankommt, gehen ihre Köpfe kurz hoch, um sich danach wieder zu senken.

Es ist beinahe skurril, wie wir hier stehen, die Wagen und ihre Fahrer mustern und nicht wissen, wer da kommen wird, zu wem wir einsteigen und wem wir schließlich einige Scheine für die geleisteten Dienste in die Hand drücken werden. Es ist ein billiges Geschäft, das wir hier betreiben. Aber wir sind jung, und wir wollen schnell an unser Ziel kommen. Ohne Umstiege. Aber dafür mit Raucherpause.

Schließlich kommt der Wagen, auf den ich gewartet habe. Der Fahrer steigt aus, er drückt mir die Hand. "Stefan", stellt er sich vor. Er nimmt meine Tasche und verstaut sie im Kofferraum. Ich setze mich auf die Rückbank hinter ihn. Der Kopfhörerjunge steigt wortlos auf der anderen Seite ein. Wir fahren los.
Wir lassen die Stadt hinter uns und wechseln auf die Autobahn. Im Rückspiegel begegnen mir Stefans Augen ein paar Mal zu oft. Ich schaue erst aus dem Fenster und dann auf meine Uhr. Noch etwa vier Stunden, dann ist es vorbei.

Mittwoch, 5. März 2014

Ohrenschmalz

(Quelle: Tumblr)


Du hast mit deinem Ohrschmalz gekrümelt, und nun hängt er dir wie ein Brotkrumen am Mundwinkel. Ich möchte ihn gern mit meiner feuchten Zungenspitze entfernen, möchte dir die Lippen lecken und mich an dem bitteren Schmalz erfreuen, aber ich stehe nur neben dir und frage: "Wie geht's?", während du mit dem Zeigefinger in deinem rechten Ohr bohrst.