Sonntag, 10. August 2014

Las Myślęcinek


"Las Myślęcinek" stand auf dem riesengroßen Schild an der Hauptstraße. Ich lachte. "Klingt ja beinahe spanisch", sagte ich, atmete ein, posaunte "Laaaaaas" und verhaspelte mich schon an den folgenden drei Buchstaben. Ich setzte nochmals an, vergebens, ich kam nicht über fünf Buchstaben hinaus. Über deine Lippen wanderte ein flüsterndes Zischen, ich bemühte mich nicht einmal mehr, deine Worte nachzusprechen. "Las" heißt Wald, erklärtest du. Und Myślęcinek sei der Name des Waldes. Und so plötzlich war der Gedanke entzaubert, wir könnten uns hier in einem spanischen Wald befinden. Und sowieso, gibt es in Spanien überhaupt Birken?

Immerhin die Temperaturen stimmten. Es war warm, fast heiß. Wir liefen einen breiten asphaltierten Weg entlang, und du erzähltest mir Geschichten aus deiner Kindheit. Dass du hier einmal beinahe von einem Rad überfahren worden wärst, weil du zu deinem Papa laufen wolltest, der auf der anderen Seite stand. Vielleicht macht man das so, wenn man Besuchern die eigene Stadt zeigt, dass man sie mit Anekdoten verziert. Weil man schon so oft an diesen Orten war, weil sie einem so gewöhnlich und doch so bedeutungsvoll für das eigene Leben erscheinen. Und weil man Angst hat, dass die Orte den Besucher langweilen. Denn jeder hat schon mal einen Wald gesehen. Was machte diesen hier also zu einem besonderen? Deine Geschichten. Oder unsere, die sich hier weiterschrieb.

Mitten im Wald war eine Wiese. Wir legten uns in das Gras, ohne Decke. Die Halme pieksten ein wenig in die nackte Haut hinein. An den Armen, an den Beinen, am Rücken, an der Stelle, wo das T-Shirt immer hochrutscht, wenn man sich bewegt. Aber es war gut, das Gras zu spüren. Keinen doppelten Boden zu haben, sondern es sich auf den Tatsachen bequem zu machen, sich hin und her zu wühlen, bis man alles platt gemacht hatte, was noch zwicken konnte.
Es war ganz ruhig um uns herum, im Schatten der Bäume wehte sogar ein leichter Wind, und wir hatten die Augen dem Himmel zugewandt. Manchmal fuhr ein Fahrradfahrer vorbei, ich bemerkte ein kleines Mädchen mit einem knallbunten Heliumballon einen Pfad entlang laufen, wunderte mich ein bisschen, aber sagte nichts. Vielleicht wiederholten sich die Geschichten.

Am endlos blauen Himmel zogen zwei Vögel ihre Kreise. Ich tippte auf Greifvögel und du auf Krähen. Ich würde nie heraus finden, wer von uns richtig lag. Der Moment war vollkommen. Dann überlegte ich, wie es wäre, jetzt einzuschlafen. Und nicht mehr aufzuwachen. Ich dachte über das Sterben nach, obwohl das Leben mich gerade küsste. In meinem Kopf wuchs der Gedanke, er wurde immer größer, und ich hatte das Gefühl, dass er jetzt raus musste, das er gehört werden musste und gleichzeitig hatte ich Angst davor, wie du wohl reagieren würdest, wenn ich jetzt anfange vom Tod zu sprechen. Aber ich tat es. Und meine Worte wanderten zu dir, und ich erinnere mich nicht mehr, was du sagtest, aber du warst nicht verwirrt oder entrüstet, sondern geselltest noch ein paar Sätze zu meiner Wortwanderschaft, zu meinem Gedankentodesmarsch. Einmal ausgesprochen, einmal geteilt, verloren die Hirngespinste an Gewicht. Wurden leicht. Kreisten mit den Vögeln noch einige Runden am Himmel und waren verschwunden.

Irgendwann standen wir auf, gingen weiter. Wir liefen den Rundweg entlang, der von vereinzelten kleinen Nippesständen gesäumt war. Unter den Sonnenschirmen standen schiefe Gestalten und versuchten T-Shirts, Waffeleis und Sonnenbrillen für wenige Złotys zu verkaufen. Du erzähltest, dass es hier mal einen Choo-Choo-Train gegeben hatte und ich bemerkte, dass das englische Wort für eine Bimmelbahn viel schöner war als das deutsche. Dann warst du einen Augenblick still, ehe du sagtest, dass der Zug eines Tages abgebrannt sei. Und dass man bis heute nicht heraus gefunden habe warum. Kurz überlegte ich, ob der Choo-Choo-Train wohl dengleichen Gedanken wie ich gehabt hatte, bevor er in Flammen aufging.

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