Samstag, 9. Juli 2016

Die Elster



Das Kniffeligste an einem Wiedersehen ist doch der Moment, auf den wir nicht vorbereitet sind. Du weißt, dass diese Stadt mir gehört. Ich habe hier Heimvorteil. Und doch tauchst du gerade dann auf, wenn ich nicht vorbereitet bin. Wie auch. Ich habe dich hier nicht erwartet. Und du hast vielleicht doch einen kleinen Augenblick darüber nachgedacht, was passieren könnte, wenn du mir hier begegnest. Ich war ahnungslos. Du nicht.

In einer Ecke in meinem Zimmer, da steht ein Karton. Darin verwahre ich Erinnerungen. Als wir uns das letzte Mal sahen, hast du mir einen Briefumschlag zugesteckt. Ich habe die Zeilen erst später gelesen, die Hehlerware erst später entdeckt. Sie befinden sich im Karton. Und du befindest dich in meiner Stadt.

Es regnet seit Stunden, ich sitze unter der Markise, esse Eis und tue so als wäre es Sommer. Kaum Leute unterwegs. Wieso auch. Und dann du. Keine Kapuze, kein Regenschirm, blaue Steppjacke und einen Freund an deiner Seite. Duo infernale. Du drehst dich um. Siehst mich an. Wir grüßen uns in deinem Vorbeigehen mit einem Handzeichen. Und ich weiß nicht, ob du zu cool oder zu schüchtern bist, um stehen zu bleiben. Um irgendwas zu sagen. Während dein Kumpel erst dich, dann mich mustert. Fragend zu dir schaut. Und du in deiner Unsicherheit einfach weiter gehst.
Es gab eine Zeit, in der ich dir Sterne ins Gesicht gemalt habe und dir Tee ans Bett gebracht habe. Wir wissen beide, diese Zeit ist vorbei. Du kannst gehen, wohin du möchtest. Ich weiß. Und doch: Diese Stadt gehört mir.

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