Sonntag, 26. April 2015

Foudroyant




Der Handkuss ist - an sich genommen und korrekt ausgeführt - eine harmlose Geste. Die Berührung verharrt in ihrer Andeutung und scheint fast abrupt in ihrem natürlichen Ablauf unterbrochen zu werden. Der Handrücken und die Lippen halten für einige Sekunden, nur wenige Millimeter voneinander entfernt, inne, der Kuss bleibt unvollendet und doch sehnsüchtig erwartet.

Eine Infektion beginnt meist unbemerkt. Die ersten Symptome sind harmlos. Manchmal spürt man jahrelang nichts davon, während sich die Krankheit schleichend im Körper ausbreitet, durch die Venen kriecht, die Organe an sich reißt, die Knochen befällt und schließlich im Endstadium das Hirn besiedelt. Manchmal bricht sie bereits nach wenigen Tagen aus, ergreift Körper und Verstand und führt in ein nicht heilbares Delirium.

Die Nächte im Krankenhaus sind lang und dunkel. Das weiße Flurlicht kriecht unter der Tür hindurch in mein Zimmer. Ich liege in meinem weißbezogenen Bett und starre auf die hellen Streifen, die sich über den Boden ziehen und allmählich von der Dunkelheit gefressen werden. Wenn ich aus dem Fenster schaue, dann sehe ich die schwarzen Konturen der Stadt im Nachthimmel. Hin und wieder bemerke ich schnelle Schritte auf dem Gang, manchmal denke ich, dass ich gerade ein leises Wimmern oder einen gequälten Schrei gehört habe. Ich spüre dann meinen Herzschlag und das ist ein gutes Gefühl.
Schlaflosigkeit ist eine Nebenwirkung von dem Mittel, das tröpfchenweise in meinen Arm fließt. Wenn mir langweilig ist, drücke ich auf die Nadel, die in meiner Haut steckt. Die Ärzte sagen, wenn ich dann einen pieksenden Schmerz spüre, ist das ein gutes Zeichen. Ich fühle nichts.

Deine Fingerknöchel trommeln leise an der Tür. Ich antworte nicht. Als das grelle Licht mitsamt deiner schwarzen Silhouette in den Raum huscht, bin ich geblendet und muss kurz blinzeln. "Hallo", sagst du, während du dich zu mir ans Bett stellst und routiniert die Kabelage überprüfst mit der ich verbunden bin, "ich habe nicht viel Zeit".
Ich nicke und schaue dich an. Du blickst zurück mit deinen kühnen Augen, dann kniest du dich vor mein Bett und lässt deine Hand unter meine Decke wandern. Ich strecke dir meine mit Haut umhüllten knochigen fünf Finger entgegen und du ziehst sie vorsichtig zu dir. Du schiebst deinen Mundschutz unter dein Kinn und flüsterst warme süße Worte. Ich kann auf dich herunter schauen, während du meine Hand langsam zu deinen Lippen führst. Die Bewegung endet wie eingefroren vor deinem Mund, ich spüre deinen Atem auf meinem Handrücken. Dann legst du meine Hand zurück unter die Bettdecke. "Ich bin ungeduldig", wispere ich. Wortlos drehst du dich um und gehst.

Du stehst schon im Türrahmen. "Ich weiß", sagst du. Und dann fügst du hinzu: "Ich habe dich infiziert".

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