Donnerstag, 9. April 2015

Jungs wie du - II





Vielleicht freut es dich, wenn ich deine Geschichte hier aufschreibe. Vielleicht freut es dich, wenn ich dir sage, dass du mir so langsam ans Herz wächst. Und genau dann kommt der Punkt, an dem es schon wieder Zeit ist, loszulassen. 7 Monate kennen wir uns jetzt. 7 Monate, in denen du dich ganz schön verändert hast. Vor einigen Tagen habe ich dir ein buntverpacktes Geschenk in die Hand gedrückt. Zum Geburtstag. Da hast du mich zum ersten Mal umarmt. Und danach schüchtern grinsend auf den Boden geschaut.
Ich kann gut verstehen, dass es dir nach all dieser Zeit schwer fällt, genau jetzt zu gehen. Wahrscheinlich bist du lange nicht mehr irgendwo richtig angekommen. Vielleicht gefällt dir das Gefühl, abends zu wissen, wo du morgens aufwachst. Und dich dann nicht fragen zu müssen, wo du eigentlich gerade bist.

Ich stehe neben dir im Türrahmen und versuche dich zu überreden, trotzdem einen Schritt nach vorn zu wagen, auf unsicheren Boden. Du zögerst, schüttelst den Kopf. Sagst, dass du nicht mitkommen willst. Schließlich würdest du doch in zwei Monaten eh im Knast landen. Da bräuchtest du jetzt auch kein neues Zuhause mehr. Jetzt antworte ich dir mit einem Kopfschütteln und sage, dass das Unsinn ist. Dass du nicht im Gefängnis landen wirst. Solange du nur den Weg weiter gehst, den du hier begonnen hast. Auch wenn er vielleicht steiniger und schwieriger ist als die dunklen Schleichwege, die du zuvor entlang gerannt bist.

Tatsächlich fahren wir eine Stunde später zusammen mit der Bahn. Ich habe uns Eis gekauft, wir sitzen schweigend nebeneinander und lassen die Schokoglasur beim Abbeißen knacken. Ich frage mich, was wohl andere Leute denken, wenn sie uns hier so sitzen sehen. Ob sie sich fragen, wie wir miteinander verbunden sind, und welche Antwort sie sich zusammen reimen. Immerhin erkennt man unsere Schicksalsgemeinschaft an dem Eis.

Der Zug bringt uns an den Rand der Stadt, dort laufen wir die schläfrige Hauptstraße entlang, deuten auf die Häuser, die uns gefallen und in denen wir gern wohnen würden. Am Ende der Allee erstreckt sich ein riesiges Gelände, darauf kleine und große Gebäude, Grasflächen, uralte Bäume. Die Anlage beherbergt eine Mischung aus Sanatorium, Alten- und Kinderheim. Du lachst: "Das ist doch ein Krankenhaus, hier". Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue die noch kahlen Zweige der Bäume an, die sich in den blauen Himmel bohren. "Das perfekte Rentnerparadies", denke ich, grinse in mich hinein und gebe dir schweigend Recht.

Schließlich stehen wir im Korridor, die Möbel gleichen einem Sammelsurium, es fehlen Bilder an den Wänden und irgendwie wirkt alles lieblos. Wir schauen uns das Zimmer an, du verziehst nicht einmal das Gesicht, ich weiß nicht, was in dir vorgeht. Als ich noch in dem Raum stehe, gehst du um die Ecke, die Tür zur Feuertreppe ist geöffnet, auf dem Gitter steht ein Plastiksstuhl. Ein provisorischer Balkon. Du stützt dich auf das Geländer, die Sonne scheint dir ins Gesicht, du blickst in die Ferne.

Wir gehen weiter durch die breiten dunklen Flure, biegen um Ecken. Ich bemerke eine Zimmertür, darauf steht mit blauem Edding geschrieben: "Eines Tages wird das Leben schöner sein".
Am Ende der Führung stehen wir mit denjenigen zusammen, die dich hier begleiten könnten. Als wir uns verabschieden, endest du mit einer Geste, die ich nicht erwartet hätte. Du klopfst dem älteren Mann mit der Nickelbrille auf die Schulter. "Merci, mon frère", sagst du.

Auf dem Weg zum Bahnhof, laufen wir die lange Straße abermals entlang. Du bleibst stehen, drehst dich nochmal um und machst ein Foto davon. Dann ein Bild von uns. "Als Erinnerung", ergänzt du.
Ob du wieder kommen wirst? Ich weiß es nicht. Vielleicht. Schließlich ist sie ja immer noch da. Die Hoffnung auf ein schöneres Leben. Die Hoffnung die man hat, wenn man ein Junge ist wie du.

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