Dienstag, 22. April 2014

Lollyboy

Der Intercity stand in Hamburg-Harburg und der Schaffner meldete einen technischen Defekt im ersten Wagen. Allerdings sei dieser innerhalb einiger Minuten behoben, versprach die Lautsprecherstimme. Ich schaute aus dem Fenster, die malerische Tristesse des Bahnhofs umgarnte meine Augen. Kleinkinder im Großraumabteil quengelten wahlweise nach Mama oder Papa, liefen umher und schienen dem außerplanmäßigen Zwischenhalt keine Freude abzugewinnen.

"Ist hier noch frei?", ich blickte in dunkle Augen und nickte stumm. Er legte seine Jacke auf den Sitz, manövrierte seinen Koffer in die Gepäckablage über meinem Kopf, schob eine Plastiktüte zwischen die Sitzreihen. Dann nahm er seine Jacke, befestigte sie am herunter geklappten Tischchen und baute sein portables Kinoerlebnis auf. Er verkabelte sich und den Sitz. Sogleich fühlte ich mich im Kabelsalat gefangen. Ich schielte auf seine Unterarme, es waren schöne dunkle Haare darauf. Ich hatte den abrupten Instinkt, darüber streichen zu wollen. Eine unbewusste Kindheitserinnerung, mein kleiner Elektrakomplex.

Er zog eine Tüte Chips mit Paprikageschmack aus seiner Plastiktüte und stellte sie neben den Bildschirm, auf dem Aliens ihr Unwesen trieben. Danach wickelte er einen großen weiß-pink gemusterten Lolly aus der Folie und schob ihn in seinen Mund. Er atmete hastig. Er war jenseits der 30 und lutschte aufgeregt an seinem Lolly. Irgendetwas irritierte mich, aber ich konnte nicht ausmachen, was es war.
Keine Minute später zerbiss er bereits den Lolly. Es krachte unangenehm laut in seinem Mund, während er den Zuckerbrocken zermalmte. Unablässig starrte er auf den Bildschirm und griff beinahe hypnotisiert zur Chipstüte. Diesmal knisterte es neben mir, die Tüte war innerhalb weniger Minuten geleert. Mit dem Kopf im Nacken schüttete er sich die letzten Reste in den Schlund.

Immer noch stand der Zug am Harburger Bahnhof. Ich schaute angestrengt aus dem Fenster und versuchte irgendein Geschehen auszumachen, das meine Aufmerksamkeit umlenken würde. Aber an diesem Ort gab es nichts, was die Penetranz der Nahrungsaufnahme meines Sitznachbarns übertrumpfen konnte.
Eine Angestellte des Bordbistros zuckelte mit ihrem kleinen Wagen durch das Abteil. "2 Snickers, bitte", hörte ich meinen Nebenmann sagen. Er öffnete die Verpackung und drückte sich die Schokoriegel in den Mund. Ich vernahm ein leises Schmatzen an meinem Ohr. Dann war es für einige Minuten ruhig. Er war in seinen Film vertieft, griff dann jedoch abermals in die Plastiktüte. Er zog einen weiteren Lolly hervor. Wieder lutschte er energisch darauf herum. Ich schaute ihn an.

Er musste meinen Blick bemerkt haben, entkabelte sein rechtes Ohr und sah nun mich an. Langsam glitt die weiß-bunte Kugel aus seinem Mund. Dann hielt er sie direkt vor mein Gesicht. "Willste auch einen?", fragte er, während er sich mit der Zungenspitze die Lippen leckte.

Ich schüttelte den Kopf, woraufhin er sich den Lolly genüsslich zurück in den Mund schob. Ich blickte aus dem Fenster und hörte es im Kiefer nebenan wieder heftig krachen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich seufzte erleichtert.

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