Montag, 2. Mai 2016

Venedig




Heute war ich im Park. Ich hatte auf einer Bank gesessen und ein Buch gelesen. Die Sonne war plötzlich kräftig und ich hatte die Hoffnung, dass der Mai nun endgültig kapiert hatte, was Frühling bedeuten würde. Also zog ich meine Socken aus und steckte später meine nackten Füße socklos in die Schuhe. Ich lief die verschnörkelten Wege durch's Grün, dachte über meine Barfüßigkeit nach und landete schließlich im vergangenen Jahr und in Venedig.

Venedig war die Zeit der nackten Füße. Als ich ankam, war es warm. Mein Koffer ratterte durch die kleinen Gassen und gab erst Ruhe, als ich das Haus gefunden hatte, in dem ich für die nächsten Tage schlafen würde. Es lag mitten in der Altstadt, versteckt hinter unzähligen Ecken und Biegungen. Schließlich stand ich vor der hölzernen Tür, drückte dagegen und vor mir lag eine dunkle schmale Treppe. Ich schleppte mich und den Koffer hinauf, oben auf der Schwelle stand meine Gastgeberin und begrüßte mich. Ich hatte sie über Airbnb kennen gelernt, durfte auf ihrem ausgebauten Dachboden schlafen und sie bekam einen 50er pro Nacht dafür. Ein Schnäppchen für Venedig in der Hochsaison. "I like your shoes", sagte sie als erstes. Ich kletterte eine noch schmalere Treppe hinauf und stand schließlich in meinem Zimmer. Dann zog ich meine Socken aus und würde sie fortan nicht mehr anziehen.

Während ich durch den Park lief, versuchte ich anstrengt mich an den Namen der Frau zu erinnern, bei der ich geschlafen hatte. Sie war vielleicht zehn Jahre älter als ich, sprach ein raues und kantiges Englisch, hatte schwarze schulterlange Haare und braune Beine. In ihre Wohnküche drang nur wenig Licht durch die geschlossenen Vorhänge, sie war entweder nicht zu Hause oder saß vor ihrem Laptop, mit angezogenen Beinen, einer Zigarette zwischen den Fingern, spanische Gitarrenmusik knisterte aus den Lautsprechern und sie schien weit weg. Wir redeten kaum. Vielleicht fiel es mir auch deshalb schwer, mich an ihren Namen zu erinnern. Im Kopf nannte ich sie "Flora", später fiel es mir dann ein: "Jo". Kein Name hätte besser zu ihr gepasst.

Eines Tages begegnete ich Antonio. Er stand im Hausflur und begrüßte mich als Jos Boyfriend. Er sprach kein Englisch und ich kein Italienisch, von seinen Lippen bröckelten einige deutsche Wendungen, ich fragte, wo er Deutsch gelernt habe, er verstand mich zunächst nicht und sagte dann: "Ich bin Boxer, ich habe ein bisschen in Deutschland geboxt". Antonio war klein, kleiner als Jo vermute ich. Er hatte eine Glatze und Tattoos auf den Oberarmen.
Am Abend kam ich nach Hause, ich hatte Cola Light und Fertigsalat auf den Treppen des Supermarktes gegessen, weil die Pizza hier schlecht und überteuert war, Jo und Antonio saßen am Esstisch. Es roch nach Gras, auf dem Tisch stand eine Flasche Wein, eine Kerze brannte, die beiden schienen losgelöster als sonst. Ich grüßte kurz, wollte schon schnell nach oben verschwinden, um sie nicht weiter zu stören, da fragten sie mich erst, ob mich der Geruch stören würde und als ich verneinte, boten sie mir die Glut zwischen ihren Fingern an. Ich schüttelte den Kopf, bedankte mich und kletterte auf meinen Dachboden.

Ich öffnete die Fenster, die angestaute Wärme des Tages verschwand in der italienischen Nacht, von draußen hörte ich Stimmen und Musik, von drinnen hörte ich Jo und Antonio kichern. Später dann nicht mehr. Ich legte mich ins Bett, meine vom Tag beanspruchten Füße lugten unter der Decke hervor und der venezianische Wind kühlte meine Zehen. Dann schlief ich ein.