Montag, 9. Februar 2015

Die blaue Lagune

Das Erste, was ich sehe, sind ihre großen Brüste. Sie steht vor mir, komplett nackt. Hält mir ihre pralle Oberweite entgegen, während ich krampfhaft versuche mich in der wasserdampfgefüllten Umkleidekabine zu orientieren. Ich schaue ihr in die Augen, wohin auch sonst, und sie wirft mir einen Blick aus Arroganz und Mitleid zu, den ich nicht recht deuten kann.

In ein weißes Handtuch gewickelt, gehe ich nach draußen, die Sonne scheint, der Wind treibt die Wolken am Himmel umher, es ist Juni, das Thermometer zeigt 14 Grad. Vor mir erstreckt sich ein hellblauer Milchsee, der von einer unwirklichen schwarzen Felswüste gerahmt wird. Im Wasser stehen vereinzelte Gestalten, sie streifen ziellos umher, eine merkwürdige Ruhe liegt über diesem wundersamen Sumpf aus Algen und Kieselerde, von dem beständige Dampfwolken aufsteigen.
Ich lege das Handtuch auf die Felsen, stehe kurz da, weinroter Bikini auf weißer Haut, und steige dann die Treppe in den heißen Tümpel hinab. Die Wärme umgarnt mich, zieht mich zu sich, ich beginne ebenso orientierungslos wie alle anderen durch das Wasser zu wandern. Automatisch bin ich Teil einer sich langsam bewegenden, riesigen Amöbe.
Hin und wieder stoße ich mir die Zehen an den scharfen Felskanten, die unbemerkt auf dem Grund auf mich lauern. Ich bin ein leichtes Fressen. Phlegmatisch lege ich mich auf einen Steinvorsprung, der Ort bedeckt mich mit einem warmen Zauber und mit dem größten Vergnügen lasse ich mich von ihm einlullen.

Er steht in der Mitte des Sees, trägt eine blauspiegelnde Sonnenbrille, lacht zu laut für diesen stillen Ort, hält sich sein Smartphone vor's Gesicht und dreht sich im Kreis. Ich starre ihn an. Nach einer Zeit bemerkt er meinen Blick, sieht mich an, seine weißen Zähne funkeln mich: "Say 'Hi!' to Brazil", sagt er und schwenkt sein Handy zu mir. Intuitiv reagiere ich auf sein Kommando, winke und grinse, und frage mich zur selben Zeit, was ich hier eigentlich gerade tue.

Er verschwindet so unvermittelt, wie er aufgetaucht war, hinterlässt nur Ruhe und eine nebulöse Wolke aus Wasserdampf. Ich streife wieder durch das Wasser, vernehme Stimmen, unterschiedliche Sprachen, meine Fingerspitzen sind schon schrumpelig, gedankenverloren lasse ich mir vom frischen, fast arktischen Wind den Kopf kühlen, während mein Körper immer noch die Wärme atmet. Vor mir steht ein breitschultriger glatzköpfiger Mann mit einem riesigen farbenprächtigen Drachen auf dem Rücken, als er sich umdreht, erkenne ich den Kopf des Drachens auf der Brust des Mannes. In dem Moment, als er mich fragend ansieht, fällt mir auf, dass ich seine bunte Haut einen Augenblick zu lang begutachtet habe. Schnell wende ich mich von ihm ab und stoße im Gehen beinahe mit einem anderen zusammen.

Seine blauverspiegelte Sonnenbrille erkenne ich sofort wieder. Er lächelt mich an und ich schaue mit einem schüchternen Lächeln zu ihm hinauf. "Meine Familie ist in Brasilien", erklärt er von sich aus. "Ein traumhafter Ort ist das hier, findest du nicht?", fragt er, ohne eine Antwort zu erwarten. Dann stellt er sich vor, nennt seinen Namen, ich nenne meinen, wir unterhalten uns. Er könnte mein Vater sein, die graumelierten Haare trägt er über den Kopf nach hinten gekämmt, seine muskulösen Arme zieren einige Tattoos.
"Kommst du mit zu meinen Freunden?", seine Frage scheint mehr eine Aufforderung zu sein. Ich folge ihm artig durch das Wasser und finde mich plötzlich neben dem Drachen und den riesigen Brüsten wieder. Daneben noch weitere Personen, sie schlürfen teure Cocktails und beachten mich nicht weiter. Ich kann nicht herausfinden, in welcher Verbindung diese Leute zueinander stehen und merke, wie mich die Tatsache, dass ich sie nicht ergründen kann, nervös macht. Er kennt mich keine fünf Minuten und erzählt mir jovial, dass er morgen eine Helikoptertour an der Küste machen will. "Mit inszeniertem Absturz und Rettungsaktion", ergänzt er und lädt mich im gleichen Atemzug dazu ein. Dann deutet er auf die Frau mit den großen Brüsten und ihren Begleiter, einen dünnen schwarzhaarigen Mann. "Er hat sich gestern mit ihr unter einem Wasserfall verlobt, romantisch, oder?". Ohne die Verlobung der beiden weiter zu kommentieren, schlage ich das Angebot eines gemeinsamen Helikopterfluges aus. "Ich muss gehen", sage ich.

Er begleitet mich noch ein Stück durch das Wasser, wir stehen uns gegenüber und verschlucken uns an oberflächlichen Floskeln, die man sich sagt, wenn man sich nur kurz kennen gelernt hat, sich nie wiedersehen wird und sich aber trotzdem sympathisch findet. Dann streckt er seinen Arm zu einer Umarmung aus, die sich im Wasser näher anfühlt als sie es in der Luft je könnte. Küsschen rechts, Küsschen links. Und dann verliert seine Wange ihren Halt an meiner Wange und sein Biss verirrt sich für nur einige Sekunden in meinen Nacken.
Ich drehe mich um und gehe, blicke nicht mehr zurück, steige aus dem Wasser, der kalte Wind empfängt mich, ich wickel mich in das Handtuch und renne mit einer unglaublichen Gänsehaut zurück in die Umkleidekabine.

Montag, 2. Februar 2015

Zwätzen Schleife


Straßenbahnen sind für mich Freud und Elend zugleich. Begegnen sie mir auf der Straße, nehme ich Reißaus, denn sie erscheinen mir unberechenbar, obwohl sie doch auf den ewigselben Gleisen rattern. Viel zu oft haben sie mich fast erwischt, viel zu oft haben sie mich zudringlich von der Straße geklingelt, viel zu oft konnte ich den rettenden Bahnsteig nur noch mit einem Hechtsprung erreichen.

Das Bild ändert sich, sobald sich die Türen vor mir öffnen und ich einen ganz eigenen Mikrokosmos betrete. In der Tram treffen sich die Menschen einer Stadt, sie müssen sich gegenüber sitzen, müssen, gerade zu den Stoßzeiten, ganz nah aneinander heran rücken und drängen einander ihre Telefongespräche in die Ohren oder ihr Mittagessen in die Nase.
Ich fahre gern mit der Straßenbahn, ich mag es, wie sie ein Netz durch die Stadt spannt und Menschen und Orte miteinander verbindet.

Es ist ein perfekter Sonntag, trist und grau. Man ahnt, dass es jederzeit regnen könnte. Wenn ich bei dir bin, dann fahren wir zusammen mit der Straßenbahn. Wir haben uns den besten Zeitpunkt ausgesucht, nehmen die Tram in Richtung "Zwätzen Schleife". Einige Leute fahren mit uns in den Norden Stadt, wir lassen das Zentrum hinter uns, die Häuser werden kleiner und die Hügel größer. Im Sommer ist es hier sicher ganz idyllisch, denke ich. Im Winter ist es ziemlich trübselig, stelle ich fest.

Er starrt uns an. Er macht das seit einer gefühlten halben Minute, wir haben aus dem Fenster geschaut, uns nichts anmerken lassen und haben einfach weiter geplappert. Ich habe versucht, seinen Augen auszuweichen, aber dann treffen sich unsere Blicke und er fängt an laut, rau und überzogen zu lachen. Unweigerlich muss ich grinsen.
Er hat einen Borstenschnitt, wilden, vergilbten Bartwuchs, sein Gesicht ähnelt dem eines Walrosses. An seinen Lippen klebt ein Tetrapack Rotwein, er nimmt einen Schluck und erzählt mit tiefstem sächsischen Dialekt, dass er einst mit der Fremdenlegion in Hongkong war. "Eine harte Zeit", sagt er, und ich bin mir nicht sicher, ob er das gerade sich selbst oder uns weismachen will.
Dann schaut er uns an, erklärt, dass er eigentlich Franzose sei. "Wenn du den Arsch voll Tränen hast, musst du trotzdem lachen", zitiert er salopp ein französisches Sprichwort, zumindest gibt er vor, dass das ein französisches Sprichwort ist.

Die Bahn tuckert weiterhin unbeirrt die Berge hinauf, während wir angestrengt aus dem Fenster starren und uns unterhalten. Zwischendurch werden wir immer wieder von einem bollernden Lachen unterbrochen. Er sieht mich eindringlich an und sagt: "Man nennt mich den schwarzen Panther, manche Menschen meinen, ich hätte keine Seele".

Glücklicherweise erreicht die Bahn in diesem Moment die Endstation und bevor es uns zu gruselig wird, hüpfen wir schnell aus der Tram, rennen den Berg hinauf und drehen uns nicht um. Der Regen landet fein auf unseren Gesichtern, und ich muss grinsen, weil die Straßenbahn uns nicht nur an abenteuerliche Orte bringt, sondern uns genauso abenteuerliche Menschen vorstellt.