Donnerstag, 21. September 2017

September


Ich dachte, ich hätte mit diesen Nächten abgeschlossen. Mit den Füßen im Sand und dem Meer im Rücken, ohne einen Blick zurück. So war ich gegangen. Alles hinter mir. Und vor mir Dunkelheit und Kälte.

Ich begegne dir immer wieder. Obwohl ich mir so oft wünsche, dass ich es vermeiden könnte. Vor dir fliehen. An einen anderen Ort. Und du lachst gehässig. Ziehst mich zurück auf das Sofa und lässt all die Songs erklingen, die ich mit dir und der Traurigkeit verbinde. Die legt sich zu uns. Und vielleicht küsse ich sie dann.

Ich gewöhne mich an dich. Das dauert ein bisschen. Und irgendwann sehe ich deine hässliche Fratze nicht mehr. Verschwunden im Nebel, der dich umhüllt. Dann schubbse ich dich gleichgültig vom Sofa und tanze zu russischen Popsongs. Ich komme doch klar mit dir. Denke ich.

Du bist ekelhaft. Du dimmst die Lichter, während die arabischen Jungs vor meiner Haustür die übrig gebliebenen Sommerhits durch ihre kratzigen Lautsprecher jagen. Und du säuselst. Vielleicht bist du betrunken, vielleicht ist deine Hand zu warm. Vielleicht hätte ich ahnen müssen, dass du immer noch weißt, wie man mich rumkriegt. Du kennst die Tricks.

Wir ziehen durch die Nacht und ihre Straßen. Ich dachte, ich hätte mit dir abgeschlossen.

Sonntag, 13. August 2017

Die Puppe.


Der Mann hatte seine Hand auf das nackte Bein der Schaufensterpuppe gelegt. Die Puppe saß auf einem Stuhl und trug ein rotes Kleid mit weißen Punkten. Auf dem Kopf hatte sie eine blonde Perücke und sollte wohl Marilyn Monroe darstellen. Die Inszenierung inmitten des seelenlosen Konsumtempels war schlecht. Doch der Mann scherte sich nicht um das Ambiente. Nein, er hat seine Finger oberhalb der Plastikkniescheibe platziert und generierte einen bizarren Moment der Intimität.

Er stand dort mit seinem karierten Hemd und der einfallslosen Hose, die andere Hand in die Hüfte gestützt. Denn vor ihm stand seine eigentliche Frau. Hielt das Display der Handykamera sehr nah an ihr eigenes Gesicht, so dass es aussah als würde sie vor dem Moment zurück weichen. Unentwegt betätigte sie den Auslöser. Und ihr Mann lächelte das Lächeln eines Gewinners. Ich konnte ihn mir mit einem prächtigen Fang in der Anglerzeitung vorstellen, oder mit einem übergroßen Scheck vor der Brust, das richtige Lösungswort des Preisausschreibens der Lokalzeitung. Hundert Euro und ein Foto für's Käseblatt.

Doch tatsächlich berührte er nur das Puppenbein. Grinste immer noch und ließ sich dann zu einer Bewegung hinreißen, die merkwürdig obszön war. Die Hand, die auf dem Oberschenkel geruht hatte, fuhr nun langsam das Bein hinauf. Als er bereits ihren Rocksaum berühte hatte, und die Hand nun darunter verschwand, da zischte seine Frau: "Es reicht!". Rasch ging er mit ihr weiter.
Die Puppe blieb starr zurück. Ihr Oberschenkel entblößt.

Sonntag, 25. Juni 2017

20.06.17



Zugegeben, ich habe in meinem Leben wenige Erfahrungen mit Maikäfern gemacht. Um ehrlich zu sein: Ich habe öfter das Lied vom Maikäfer und seinen leidgeplagten Eltern gesungen, als dass ich jemals welche in Natura sah. Wahrscheinlich waren sie tatsächlich alle in Pommerland gestorben. Nur einmal, es war eine Nacht in der Auguststraße, da vermutete ich eine Motte hinter meinen grünen Vorhängen. Doch das Brummen wollte nicht enden und als ich früh am Morgen die Vorhänge zur Seite schob, saß da unerwartet ein stattlicher Maikäfer an meiner Fensterscheibe. Seitdem ist mir nie wieder einer begegnet. Und hätte jemand in der Zeitung geschrieben, die Maikäfer wären alle ausgestorben - ich hätte es geglaubt.

Doch dann kam der gestrige Tag. Und mit ihm der Abend. Über dem Feld ein roter Ball, der sich dem Horizont näherte und schließlich verglühte. Wir saßen auf der Wiese mit vielen anderen und beobachteten das Spektakel. Der Himmel flimmerte, die Luft surrte. Als der erste Käfer brummend neben meinem Ohr summte, lachte ich noch und dachte eine Handbewegung könnte ihn verscheuchen. Der zweite Käfer verfing sich in meinem Haar, der dritte flog direkt in mein Gesicht, der vierte kam in einem Sturzflug auf mich zu. Es wurden immer mehr. Dann wagte ich einen Blick zum Himmel und sah hunderte, ja, vielleicht tausende von dicken schwarzen Punkte im pastellfarbenen Gebilde über mir.

Und hätte ich mich an jenem Abend nicht so lebendig gefühlt, ich hätte darum gebeten, dass mich jemand kneift und ich aus diesem Traum aufwache. Die Käfer tanzten nicht in der Luft. Nein, sie zogen höchst chaotische Bahnen durch die beginnende Sommernacht. Als wären sie alle dem Absturz geweiht. Und so kam es, dass wir aufstanden, uns von der torkelnden Meute entfernten, in der Hoffnung, abseits des Grüns Ruhe zu finden. Aber wir hatten uns getäuscht: Die Käfer lagen auf dem heißen Asphalt und zappelten mit ihren kleinen Beinchen. Von den Bäumen fielen sie hinab, wie dicke Regentropfen eines Wolkenbruchs.

Morgen ist die längster Tag des Jahres. Und die Maikäfer werden ihn nicht mehr erleben.

Sonntag, 14. Mai 2017

Piano



Du hast vor mehr als zwei Jahren einen Nachruf für mich geschrieben. Und jeder, der ihn sucht, wird ihn finden können. 

Es gibt Tage, die verbringe ich mit dir. Ich sehe dich. Ich höre dich. Ohne, dass du da bist. Ich weiß, dass du den roten Nagellack auf meinen Zehenspitzen schätzen würdest. Ja, vielleicht sogar begehrenswert findest. Und ich verrate es dir gern: Heute ist der erste Tag, an dem ich keine Socken trage. Ich laufe mit dieser Schuhgröße 36 barfuß über die Dielen meiner Wohnung. Und keiner hört meine Schritte.

Ich weiß nicht, ob es Zufall ist. Aber letzte Woche habe ich altes Schuhwerk in einen blauen Müllbeutel gesteckt. In einer Zeitschrift habe ich gelesen, dass man sich trennen soll. Sich für die Erinnerungen bedanken. Ich habe mich bedankt. Für alles, was dreckig geworden ist. Kaputt. Unbequem. Austauschbar.

Meine Mutter sagt mir am Telefon, dass sie stolz auf mich ist. In mein Heft schreibe ich: "Das Einzige, was von Wert ist, sind die Geschichten, die ich nicht erzählt habe". Ich war immer die, die dreimal lächelt. Und das vierte Mal zu viel. Ich trage aserbaidschanisches Parfum und Strickjacken, die aussehen wie Gardinen. Ich laufe barfuß durch meine Wohnung.

Mein Name ist Emily Horrowitz.

Montag, 20. März 2017

Stromausfall 2013


2013 war das Jahr, in dem Jorge Mario Bergoglio Papst Franziskus wurde, das Jahr in dem Angela Merkel wiedergewählt wurde, das Jahr in dem die Praxisgebühr aufgehoben wurde und die neuen 5-Euro-Scheine eingeführt wurden. 2013, das waren 366 tote Bootsflüchtlinge vor Lampedusa an einem Tag, das waren die ersten politischen Demonstrationen in der Ukraine, der Beginn der Proteste gegen die Regierung Erdogan in der Türkei.

2013 war das Jahr, in dem ich von einem Fahrradfahrer über den Haufen gefahren wurde und der Unfallflucht bezichtigt wurde. Es war das Jahr, in dem ich durch die Straßen von St. Petersburg, Paris, Warschau und Bupdapest lief. Es war das Jahr von Magenschmerzen und Schmetterlingen in meinem Bauch.

2013 war das Jahr, in dem abends immer öfter der Strom in deiner Stadt ausfiel. Du warst 16 und der Krieg mittlerweile seit mehr als zwei Jahren in deinem Land. Du warst auf der Straße, mit deinen Großeltern, deinen Cousins. Es war unglaublich dunkel, so dunkel, dass du nicht einmal die eigene Hand sehen konntest. Als dein kleiner Cousin um eine Hausecke lief, gingst du rasch hinterher. Im schwachen Licht der Feuerzeuge knieten Männer um eine Leiche, die auf der Straße lag. Dein Cousin war weiter gelaufen und stand abseits in einem Hauseingang. Dann plötzlich, Schüsse. War das eine Warnung? Die nachfolgende Stille bedrohlich. Der Schein der gelben Flammen verschwand mit einer Fingerbewegung. "Wir erkannten die Soldaten nur am Glühen ihrer Zigarettenspitzen. Wir haben den Atem angehalten, als sie vorbei liefen. Sie konnten uns nicht sehen und doch schossen sie in unsere Richtung." Du bist zu deinem Cousin gerannt, hast ihn unter deinen Arm gepackt und bist den laufenden Anderen gefolgt. Nur weiter in die schützende Dunkelheit hinein, während hinter euch die Schüsse halten.

"Ein Mann lief neben mir", sagst du an meinem Küchentisch. Es ist 2017. "Er trägt die Narben dieser Kugeln in seiner Haut". Vier Jahre sind vergangen. Der Strom fällt immer noch aus. Abends in Damaskus.