Donnerstag, 18. Dezember 2014

Schluckauf



Du erwischst mich immer unvorhergesehen. Es sind keine besonderen Situationen, in denen du dich bemerkbar machst, mich hinterlistig überfällst und mir aufdringlich die Hände um den Hals legst. Du fragst nicht nach Erlaubnis, du tauchst plötzlich auf, lässt mich nach Luft schnappen und ärgerst mich. Je mehr ich versuche, mich gegen dich zu wehren, desto weniger bekomme ich dich in den Griff. Ich habe schon alles probiert: Die Luft anhalten, dabei alles hinunter schlucken. Ich habe mich erschrecken lassen und gehofft, dass die Angst dich verscheuchen kann. Ich habe mich an das gestrige Frühstück erinnert und nicht mehr an dich gedacht.
Und doch bleibt alles wirkungslos. Ich kann nur abwarten und wünschen, dass du genauso unvermittelt verschwindest wie du aufgetaucht bist. Und solange steckst du wie ein Frosch in meinem Hals und flatterst wie verirrter Vogel in meinem Kopf herum, denn ich ahne - du denkst gerade an mich.

Sonntag, 30. November 2014

Rumänien



Du hast immer gesagt, dass wir eines Tages zusammen nach Rumänien fahren. Zu deinen Verwandten auf's Land. Und ich habe mir vorgestellt, wie das wäre. Zusammen auf dem Land bei deinen Verwandten, die in kleinen schrägen Häusern wohnen, die aussehen wie real gewordene Kinderzeichnungen. Mit dicken Schornsteinen, schrumpeligen Dachziegeln, kleinen Fenstern mit geblümten Gardinen und klapperigen Holztüren. Und in meinen Gedanken waren die Häuser umzingelt von Feldern und Gemüsebeeten, alten Obstbäumen, schmalen Trampelpfaden und einer schotterigen Dorfstraße.

Wir waren Teenager. Du hattest Kummer, eine Schwäche für Rotwein und verrauchte Kneipen. Ich hatte Langeweile und eine Schwäche für dich. Du erzähltest mir Geschichten von dem süßlichen Duft der sonnenreifen Weintrauben und den weichen Lippen rumänischer Frauen. Ich sah uns bereits in deinem kleinen roten Auto sitzen, du am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz. Zusammen auf dem Weg gen Osten. Im Kofferraum unsere Schlafsäcke, die Fenster hinunter gekurbelt, meine Hand im Fahrtwind, eine Gauloise in deinem Mund und Chopin, den du so gern hattest, klimperte in unseren Ohren. Wir würden nicht reden, die Welt würde vorbei ziehen und irgendwann wären wir angekommen. Auf dem rumänischem Hügel. Deine Verwandten wären mit Willkommensparolen aus ihren Häusern gestürmt, hätten uns mit Tomatensalat und Hähnchenschenkeln gemästet und vielleicht wären wir nie wieder den Berg hinunter gefahren. Vielleicht wären wir für immer geblieben. Vielleicht wären wir in eines der Häuser gezogen. Vielleicht hätte ich uns morgens starken schwarzen Kaffee gekocht. Vielleicht hätten wir ein Kind bekommen oder sieben.

Tatsächlich sind wir nie nach Rumänien gefahren. Der Gedanke ist aber immer noch in meinem Kopf. Er kriecht dort herum, windet sich wie ein Wurm durch die dunkle Erde, und immer wenn es regnet, dann kommt er kurz zum Vorschein, schnappt nach Luft und verschwindet wieder. Man kann nicht von einem Erdbeben sprechen, die Erschütterung ist so fein, dass ich sie kaum bemerke, aber manchmal denke ich dann an dich, deinen Biss in meinen Handrücken und die kleinen Zettelchen, die du mir unauffällig in der Schule zugesteckt hast.
Ich weiß nicht, was du jetzt machst, ob du schon an Wein und Wodka ertrunken bist, oder ob du mittlerweile alle Werke Bukowskis auswendig kannst. Und eigentlich ist es mir auch egal. Aber wenn du jetzt gerade in einem rumänischen Dorf sitzt, umringt von deinen sieben Kindern und jemand dir eine Tasse schwarzen Kaffee an den Schreibtisch bringt, an dem du deine Geschichten schreibst, dann nehme ich dir das übel. Denn dieser Plan gehörte uns.

Samstag, 15. November 2014

Sommer in Berlin




Ich hatte den Gedanken einige Tage mit mir herumgeschleppt. Wie einen Pfirsich, den man beim Einkaufen unachtsam als erstes in die Tasche steckt und danach unter unzähligen anderen Produkten begräbt. Ich lief mit dem Gedanken durch die Stadt, vergaß ihn in der Tasche, hatte ihn beim Auspacken übersehen. 

Und als ich einige Tage später zur Tasche griff, entdeckte ich den Gedanken, halb zerquetscht, halb vergammelt. Sein süßlich-saurer Geruch stach mir in die Nase und ich ekelte mich davor, die überreifen Reste abzukratzen. Der Gedanke hatte unbemerkt die Tasche verfärbt und klebte nun am Innenfutter, selbst die Waschmaschine ließ die Spuren nicht verschwinden.

Von jetzt an begleitete mich der Gedankenfleck, er war hässlich und zeugte von meiner Unbedarftheit, aber ich konnte mich nicht von ihm trennen, weil ich den Pfirsich doch eigentlich für dich gekauft hatte.

Sonntag, 12. Oktober 2014

The colder water, the blower's daughter.


Wenn mir vor einigen Jahren jemand mit Blick in die Glaskugel erzählt hätte, dass ich ihm jemals in diesem Leben begegnen würde - ich hätte die Augen verdreht. Wenn mir jemand erzählt hätte, dass wir eines Tages zusammen im Ozean schwimmen würden - ich hätte ungläubig mit dem Kopf geschüttelt.

Mein kleines rotes Mietauto war voll mit Freunden von dir, auf der Rückbank ein letzter freier Platz in der Mitte. Wir fuhren durch die unzähligen verwinkelten Einbahnstraßen Reykjavíks, irgendwann sollte ich anhalten, ich sah nur ein Gesicht im Rückspiegel. Ein schönes Gesicht mit leuchtenden Augen. Der Hotpot direkt am Strand, im Süden der Stadt, würde in einer Stunde schließen, ich fuhr über die einzige sechsspurige Straße des Landes und aus dem Radio tönten Popsongs. Es war ein wunderbarer isländischer Sommertag, ich hatte das Autofenster geöffnet, zwitscherte zu den Liedern und der schöne Mann stimmte mit ein.

Als wir ankamen, verschwanden wir in den Umkleidekabinen und fanden im Hotpot wieder zueinander. Du wolltest im Meer schwimmen gehen, er wollte mitkommen und ich nahm all meinen Mut zusammen und begleitete euch. Wann hat man schon mal die Gelegenheit in der nördlichsten Hauptstadt der Welt im Atlantik zu schwimmen? Über den Strand rennen, nur nicht zögern, immer weiter, selbst, wenn du bereits mit den Füßen im eiskalten Wasser bist, selbst, wenn dein ganzer Körper vor Schmerz schreit und durch deinen Mund nur ein zaghaftes Quietschen weicht. Und dann steckst du bis zum Kopf im Ozean. Und der Moment ist riesig.

Später sitzen wir wieder im Hotpot und Wärme durchflutet unsere Körper. Der Mann sieht mich an. Er grinst. Ich werde das Gefühl nicht los, ihn zu kennen. Schaue auf seine überaus attraktiven Unterarme, auf seinen nackten Oberkörper.
Eine Durchsage verkündet, dass das Miniaturschwimmbad schließt, wir ziehen uns um. Später steht er neben mir, reicht mir seine Wasserflasche und ich nehme einige durstige Schlucke.

Wir fahren nach Hause. Als wir ankommen, alle bereits ausgestiegen sind und ich langsam zur Ruhe komme, fällt mir auf, wer da auf meiner Rückbank saß. Mit wem ich gerade im Atlantik gebadet habe. Und ich bekomme den Mund nicht mehr zu.
Auch heute nicht, als ich mir die Lieder seines neuen Albums anhöre, durch meine Küche laufe und leise mitsinge. Es ist schwierig zu verstehen, dass ich mit dem Mann mit Gitarre, der mich seit so vielen Jahren durch mein Leben begleitet, tatsächlich einen Abend am Strand von Nauthólsvík verbracht habe - und erst im Nachhinein bemerkt habe, wer das eigentlich gerade war.

Sonntag, 21. September 2014

Sommer 2011





Fingernägel knabbern. Im großen Stil. Meine Fingernägel sind klein und brüchig. Es reicht ein Pinselstrich und schon sind sie lackiert. Sobald ein Stückchen übersteht, stecke ich mir den Nagel zwischen die Schneidezähne und beiße zu. Es gibt Leute, die schlucken ihre Hornecken runter. Es gibt Leute, die spucken sie auf die Straße. Ich gehöre zu den Letzteren. Verteile meine DNA überall in der Stadt. Bin nicht besser als einer, der regelmäßig die Mädchen am Straßenrand mitnimmt und seine DNA in der Stadt verteilt. Letztlich ist das mehr so eine Ich-war-hier-Methode. Könnte auch Bäume und Sträucher anpissen. Ist immer eine Frage des Wies.


Der Sommer ist vorbei. Das sage ich schon seit Tagen und ich werde dem nicht müde. Ich sage nicht: "Der Herbst fängt an", ne, ich sage: "Der Sommer ist vorbei". Das hat sowas Endgültiges und das gefällt mir. Anders ist das, wenn der Winter zu Ende geht, dann sage ich immer: "Der Frühling fängt an", das macht mir gute Laune und ich erzähle es allen, die mir so über meinen Weg laufen, während ich Fingernägel in die Gegend spucke, dass ich den Frühling riechen kann. Nickende Gesichter, die sich dann schnell von mir abwenden. Wer will schon mit einer gesehen werden, die ständig die Finger im Mund hat wie ein Kleinkind.


Explodiert ist er, der Sommer. Direkt vor meinen Füßen hat er alle Pflanzen austrocknen lassen. Hat mich invalide gemacht. Tagelang habe ich einfach bedeppert im Bett gelegen, keiner hat mich evakuiert, und ich dachte, ich sterbe einen qualvollen Hitzetod. War nicht so. Der Sommer verzog sich so schnell wie er gekommen war, und ich fragte mich, ob es das jetzt gewesen sei. Irgendwie hatte ich mehr erwartet. Hatte auf Sommernächte gehofft, in denen ich mit zwielichtigen Gestalten an Gewässern sitzen würde und wahlweise schwieg oder rumpöbelte. Bis mich einer nimmt und mich ins Wasser schmeißt. Hat keiner gemacht. Ich saß ja auch nicht am Wasser. Hatte andere Dinge zu tun. Mücken in meinem Zimmer jagen. Nasse Handtücher um meinen Kopf wickeln. Überreife Bananen essen. Solche Sachen eben, die man macht, wenn man's nicht mehr aushalten kann. Was eigentlich? Nicht mehr aushalten?
Weiß ich auch nicht so genau.

Samstag, 30. August 2014

Der erste Schultag


Ich führe den durchsichtigen Plastikbecher an meinen Lippen und nippe an dem Wasser. Wir sitzen uns am Tisch gegenüber. Um uns herum hängen Werbeplakate mit unbezwingbar modernen Menschen unserer Zeit. Wir haben das Verkaufsgespräch hinter uns, ich habe meine Unterschrift gesetzt und du hast wahrscheinlich deine Prämie bekommen.

Du hast mich sofort geduzt und ich habe dich sofort angelächelt. Macht man das? Du hast nach meinem Personalausweis gefragt und ich habe dir meine Passfotogesichter der letzten Jahre gezeigt. Macht man das?

Wir kennen uns vielleicht zwanzig Minuten. Du weißt nichts über mich, aber hast dir aufmerksam mein Geburtsdatum gemerkt. Was passiert, wenn der Vertrag unterschrieben ist? Was passiert, wenn man eigentlich gehen könnte, aber viel lieber sitzen bleibt? Du erzählst mir von deinem Leben, fängst irgendwo in der Mitte an, springst zwischen den Zeiten und während ich deine Schneidezahnlücke fasziniert anstarre, bist du plötzlich in deiner Kindheit. Hattest du diese Lücke damals schon?

Dein erster Schultag. Der Unterricht war vorbei, die Kinder liefen aus den Klassen zu ihren Eltern. Die drückten ihnen Schultüten in die Hand. Nur für dich gab es nichts. Während die anderen die Hände voller Süßigkeiten hatten, blieben deine leer. "Meine Eltern konnten nichts dafür", sagst du entschuldigend. Selbst jetzt noch. "Sie kannten das halt nicht".
Du schiebst mir meinen Personalausweis über den Tisch entgegen. "Weißt du", fügst du zögerlich hinzu, "ich habe auch einen deutschen Pass. Aber in solchen Momenten merkst du eben doch, dass du ein Ausländer bist". Und dann zuckst du mit den Schultern und lachst. Immerhin könntest du alle Schlager von Helene Fischer mitsingen, sagst du. Das wäre doch auch ziemlich deutsch.

Sonntag, 10. August 2014

Las Myślęcinek


"Las Myślęcinek" stand auf dem riesengroßen Schild an der Hauptstraße. Ich lachte. "Klingt ja beinahe spanisch", sagte ich, atmete ein, posaunte "Laaaaaas" und verhaspelte mich schon an den folgenden drei Buchstaben. Ich setzte nochmals an, vergebens, ich kam nicht über fünf Buchstaben hinaus. Über deine Lippen wanderte ein flüsterndes Zischen, ich bemühte mich nicht einmal mehr, deine Worte nachzusprechen. "Las" heißt Wald, erklärtest du. Und Myślęcinek sei der Name des Waldes. Und so plötzlich war der Gedanke entzaubert, wir könnten uns hier in einem spanischen Wald befinden. Und sowieso, gibt es in Spanien überhaupt Birken?

Immerhin die Temperaturen stimmten. Es war warm, fast heiß. Wir liefen einen breiten asphaltierten Weg entlang, und du erzähltest mir Geschichten aus deiner Kindheit. Dass du hier einmal beinahe von einem Rad überfahren worden wärst, weil du zu deinem Papa laufen wolltest, der auf der anderen Seite stand. Vielleicht macht man das so, wenn man Besuchern die eigene Stadt zeigt, dass man sie mit Anekdoten verziert. Weil man schon so oft an diesen Orten war, weil sie einem so gewöhnlich und doch so bedeutungsvoll für das eigene Leben erscheinen. Und weil man Angst hat, dass die Orte den Besucher langweilen. Denn jeder hat schon mal einen Wald gesehen. Was machte diesen hier also zu einem besonderen? Deine Geschichten. Oder unsere, die sich hier weiterschrieb.

Mitten im Wald war eine Wiese. Wir legten uns in das Gras, ohne Decke. Die Halme pieksten ein wenig in die nackte Haut hinein. An den Armen, an den Beinen, am Rücken, an der Stelle, wo das T-Shirt immer hochrutscht, wenn man sich bewegt. Aber es war gut, das Gras zu spüren. Keinen doppelten Boden zu haben, sondern es sich auf den Tatsachen bequem zu machen, sich hin und her zu wühlen, bis man alles platt gemacht hatte, was noch zwicken konnte.
Es war ganz ruhig um uns herum, im Schatten der Bäume wehte sogar ein leichter Wind, und wir hatten die Augen dem Himmel zugewandt. Manchmal fuhr ein Fahrradfahrer vorbei, ich bemerkte ein kleines Mädchen mit einem knallbunten Heliumballon einen Pfad entlang laufen, wunderte mich ein bisschen, aber sagte nichts. Vielleicht wiederholten sich die Geschichten.

Am endlos blauen Himmel zogen zwei Vögel ihre Kreise. Ich tippte auf Greifvögel und du auf Krähen. Ich würde nie heraus finden, wer von uns richtig lag. Der Moment war vollkommen. Dann überlegte ich, wie es wäre, jetzt einzuschlafen. Und nicht mehr aufzuwachen. Ich dachte über das Sterben nach, obwohl das Leben mich gerade küsste. In meinem Kopf wuchs der Gedanke, er wurde immer größer, und ich hatte das Gefühl, dass er jetzt raus musste, das er gehört werden musste und gleichzeitig hatte ich Angst davor, wie du wohl reagieren würdest, wenn ich jetzt anfange vom Tod zu sprechen. Aber ich tat es. Und meine Worte wanderten zu dir, und ich erinnere mich nicht mehr, was du sagtest, aber du warst nicht verwirrt oder entrüstet, sondern geselltest noch ein paar Sätze zu meiner Wortwanderschaft, zu meinem Gedankentodesmarsch. Einmal ausgesprochen, einmal geteilt, verloren die Hirngespinste an Gewicht. Wurden leicht. Kreisten mit den Vögeln noch einige Runden am Himmel und waren verschwunden.

Irgendwann standen wir auf, gingen weiter. Wir liefen den Rundweg entlang, der von vereinzelten kleinen Nippesständen gesäumt war. Unter den Sonnenschirmen standen schiefe Gestalten und versuchten T-Shirts, Waffeleis und Sonnenbrillen für wenige Złotys zu verkaufen. Du erzähltest, dass es hier mal einen Choo-Choo-Train gegeben hatte und ich bemerkte, dass das englische Wort für eine Bimmelbahn viel schöner war als das deutsche. Dann warst du einen Augenblick still, ehe du sagtest, dass der Zug eines Tages abgebrannt sei. Und dass man bis heute nicht heraus gefunden habe warum. Kurz überlegte ich, ob der Choo-Choo-Train wohl dengleichen Gedanken wie ich gehabt hatte, bevor er in Flammen aufging.

Montag, 28. Juli 2014

Es ist okay



Es ist okay, dass du wegziehst. Ehrlich. Ich werde dich nicht vermissen, denn eigentlich kenne ich dich gar nicht. Und das war jetzt gelogen, zumindest zur Hälfte. Oder eben die "halbe Wahrheit", wie man so sagt. Klingt schließlich besser als "Lüge". Du darfst dir überlegen, was du glaubst.

Es ist okay, dass du Berlin bald dein Zuhause nennen wirst. Die Stadt passt viel besser zu dir und deiner vorlauten Art, deinen wilden roten Locken und deinem Silberblick. Du wirst nicht mehr über Kopfsteinpflaster stolpern müssen, denn dort kannst du die ebenmäßigen Bürgersteige zu deinen persönlichen Laufstegen machen. Ich kann mir gut vorstellen, wie du jeden Abend in einer anderen Bar sitzt, die Zigarette zwischen deinen Himbeerlippen und dein kratziges Lachen, mit dem du alle Köpfe ganz automatisch in deine Richtung verdrehst.

Es ist okay, dass ich dich nicht mehr sehen werde. Obwohl du gesagt hast, dass ich mich gern melden kann, wenn ich mal in der Hauptstadt bin. Selbst wenn wir uns treffen würden, wir hätten uns nichts zu sagen. Das war doch schon immer so, fast jeden morgen an der Bushaltestelle. Ich war zu schüchtern um meine Kopfhörer abzunehmen und mit dir über das Wetter zu reden, und du warst zu morgenmuffelig und hast dir beinahe bockig Croissantfetzen in den Mund gestopft. Also blieb es nur bei einem Nicken, einem vorsichtigen Lächeln. Und dann kam der Bus und nahm uns mit. Woanders hin.

Es ist okay, dass wir uns in den letzten drei Jahren vielleicht zweihandvollmal miteinander unterhalten haben. So richtig, meine ich. Immer traf ich dich zufällig in irgendwelchen Kneipen. Du warst dann redseliger, ziemlich charmant sogar, vermutlich beschwippst, ich bin mir nicht sicher. Aber wir grüßten uns und du nahmst mich bei der Hand und zogst mich zu dir. Und dann stelltest du mich namentlich deinem Bekanntenkreis aus stets neuen Gesichtern vor, und ich war ein bisschen stolz darauf, dass du dir merken konntest, wer ich war. Nicht wer ich bin. Und ich verfälschte absichtlich meine Stimme und versuchte möglichst scharfsinnig-witzige Anekdoten von mir zu geben, weil ich unsicher war und du so anmutig in deiner betörenden Borniertheit.

Es ist okay, dass du gehst. Wirklich. Aber es ist schade, dass du niemals wissen wirst, wie sehr ich dich eigentlich mochte. Obwohl ich dich nicht kannte. Und jetzt darfst du nochmal von vorn lesen, denn dann erfährst du immerhin die Wahrheit.

Donnerstag, 17. Juli 2014

Übermut und Tunichtgut



In der letzten Woche haben zwei Personen, ganz unabhängig voneinander, bemerkt, dass sich an mir etwas verändert hat. Es ist nur eine Kleinigkeit. Ein winziges Detail. Aber die Bedeutung ist enorm.

Meine Füße haben bereits vieles gesehen, mussten schon einiges durchmachen, haben tagelang in verschwitzten ungemütlichen Turnschuhen gesteckt und hatten nach durchtanzten Highheelnächten einen gewaltigen Kater. Dafür wurden sie aber stets belohnt: Pariser Pelouse, Atlantikwasser, Küsse auf die kleinen Zehe.
"Füßchen Übermut und Füßchen Tunichtgut", so hatte meine Mutter meine Füße getauft, als sie mir morgens die Socken anzog. Daraus wurde ein Ritual und ich tippelte, hoppste und trampelte mit diesen, ihrem Ruf voraus eilenden, Füßen durch die Welt.  Sie waren kaltblütig, träumten viel zu oft, verloren das Gleichgewicht und ließen mich unangenehm über Gehwegplatten stolpern. Immer wieder machten sie mit all ihrem Übermut und Tunichtgut auf sich aufmerksam, damit ich ihnen mehr Beachtung entgegen brachte.

Siebenmeilenstiefel gibt es nicht in Schuhgröße 36. Aber das war meinen Füßen egal, sie wollten trotzdem laufen, klettern und von Klippen baumeln. Und ich tat ihnen den Gefallen, denn sie brachten mich zuverlässig an Orte und zu Personen, die mein Herz höher schlagen ließen. Dabei ist mein Herz so weit von meinen Füßen entfernt, mindestens 140 Zentimeter. Das ist mehr als meine Schrittlänge.

Mein Hautarzt hat einmal gesagt, dass es gefährlich ist, wenn Leberflecke dunkler werden, wenn sie größer werden, oder wenn sie ihre Form verändern. Seit jeher habe ich diesen Leberfleck auf meinem rechten Fuß. Ich finde, er passt da ganz gut hin. Irgendwo unter dem Ringzeh. Fast so schön wie ein kleines Muttermal über der Lippe.
Dieser Leberfleck ist eine Kleinigkeit, er fällt nicht weiter auf, es ist kein juckender Mückenstich, keine geschichtsträchtige Narbe. Mein Ringzehleberfleck war schon immer einer von vielen. Bis er sich verändert hatte. Und ich hatte es nicht bemerkt. Ich musste erst von anderen darauf aufmerksam gemacht werden, dass er kein normaler Leberfleck mehr war. Er hatte seine Form verändert. Aus einem kreisrunden Punkt ist ein winziges Herz geworden. 

Mein Herz hat sich zu meinen Füßen gesellt. Zu Übermut und Tunichtgut. Ich glaube, die beiden brauchen noch ein bisschen Zeit um sich daran zu gewöhnen.

Sonntag, 6. Juli 2014

Sommergewitter


Du hast mal gesagt, dass du den Regen magst. Weil es immer den Anschein hat, als würde er die Welt wegspülen wollen. Wahrscheinlich waren das gar nicht deine Worte, sondern ein geklautes Zitat, das du als dein eigenes Gefühl ausgegeben hast.

Ich sitze an meinem Fenster und der Regen fällt vom Himmel runter. Es muss ein gewaltiger Wolkenrohrbruch sein. Ich frage mich, ob du jetzt auch gerade nach draußen schaust und die Luft einatmest, die gerade von der Sommerhitze rein gewaschen wird. Es gibt keinen Weichspüler namens Sommerregen, vielleicht ist das eine Marktlücke.

Wenn es im Sommer regnet, muss ich an dich denken. Diesen Gedanken habe ich geklaut, und ich frage mich, wie viele Leute an dich denken, wenn es regnet. Mit wie vielen Leuten du schon still am Fenster gestanden hast und den Regen beobachtet hast. Das Prinzip ist immer gleich. Du atmest ein. Dann tust du so, als würdest du nachdenken. Du legst deinen schönen Kopf zur Seite. Und schließlich säuselst du: "Ich mag den Regen. Ich glaube, er könnte die Welt wegspülen, wenn er wollte."

Manchmal frage ich mich, an wen du denkst, wenn es regnet. Manchmal frage ich mich, ob du weißt, dass du ein Dieb bist.

Freitag, 20. Juni 2014

Schwarze Katze von links.


Zwischen meine Zehe habe ich ein Gänseblümchen geklemmt.
Ich nehme das Schicksal
in den Schwitzkasten.
Und reiße ihm sadistisch
die Haare aus.
Bedächtig zupfe ich die Blütenblätter,
während ich mein Mantra rezitiere.
Fortuna kniet
fast kahlköpfig zu meinen Füßen
und lacht höhnisch über das Orakel.
Der letzte Satz wandert über meine Lippen.
Und die nackte Narbe
verkündet schadenfroh:
"Er liebt mich nicht".

Donnerstag, 19. Juni 2014

Blau


Viele Menschen haben im Flugzeug die Angewohnheit, Tomatensaft zu trinken. Ich hatte schon immer die Angewohnheit, in Flugzeugen zu weinen. Es ist kein ängstliches Schluchzen, kein aufgeregtes Heulen. Ich weine nicht, weil ich Heim- oder Fernweh habe, nicht weil ich Flugangst habe. Ich weine nicht aus Traurigkeit oder vor Glück, ich weine, weil ich überwältigt bin.

So auch diesmal. Das Flugzeug überquerte den Atlantik. Ich saß am Fenster, wenn ich hinaus schaute, war alles blau. Oben, unten, links, rechts. Blauer Himmel, blaues Wasser. Der Platz neben mir war frei, ich klappte das Tischchen herunter und stellte meinen Plastikbecher mit zuckersüßem Orangensaft darauf. Als die Stewardess später den Becher einsammelte, klappte mein Nebenmann, der am Gang saß, den Tisch sofort wieder hoch. Er hatte mittlerweile die dritte Miniaturweißweinflasche geleert und ich fragte mich, warum er sich dem Dusel hingab. Vielleicht hatte er Heim- oder Fernweh, vielleicht hatte er Flugangst, vielleicht war er zu traurig oder zu glücklich, oder es ging ihm wie mir, er war überwältigt. Ich wusste es nicht, ich hatte kein Interesse daran, es zu erfragen, wir sahen uns ja nicht einmal an, unsere einzige Kommunikation fand über das Auf-und-Zu-Klappen des Tischchens statt.

Und dann erblickte ich unter mir plötzlich Land. Das Land war merkwürdig braungrau und sah anders aus als jedes andere Land, das ich zuvor von oben gesehen hatte. Keine grünen Felder, die man ausmachen konnte, keine blauen Flüsse, keine grauen Städte. Ein brauner Farbklecks, der von einem dunkelblauen Tintenmeer gerahmt wurde.
Durch meine Kopfhörer purzelten Glockenspieltöne und unverständliche Worte in meine Ohren. Ich hatte dieses Lied jahrelang mit diesem Ort verbunden, der nun unter mir lag, den ich nie zuvor gesehen hatte, von dem ich aber jahrelang geträumt, fantasiert und geschwärmt hatte. Ich fühlte mich wie eine Dreizehnjährige, die ein Konzert von ihrer Lieblingsband anschauen darf und später in den Backstagebereich eingeladen wird. Alles war zum Greifen nah, es war kein Traum mehr, es war real. Ich war überwältigt. Ich zitterte nicht, ich kreischte nicht, ich schaute nur begeistert auf die Welt, die sich vor mir eröffnete, während Sigur Rós weiterhin alles in mir zum Erklingen brachten.

Mein Sitznachbar starrte unbeweglich auf die Kopfstütze vor sich. Ich starrte aus dem Fenster. Und dann rollten die Tränen. Ganz langsam. Während gleichzeitig die Räder auf der Piste des Flughafens aufsetzten und genauso langsam zum Terminal rollten.

"Welcome to Iceland", sagte der Pilot.

Freitag, 30. Mai 2014

Marmelade in Warschau



Die Mittagssonne knallte mir durch die Schädelknochen, während ich durch Praga streunte. Am rechten Weichselufer Warschaus gelegen, posaunte mein Reiseführer, dass hier Weißrussland beginne. Dieser Stadtteil sei von der Stadt vergessen. Der perfekte Ort also, um sich selbst zu vergessen.

Ich lief eine lange Straße hinunter, immer geradeaus, jeder Schritt ein weiteres Stück ostwärts. An mir zogen Friseurstuben mit Blümchengardinen, kleine Korridorkioske, Marienstatuen in Glaskästen und Geranienkübel vorbei. Der Bürgersteig war eine Mischung aus Steinplatten und Teer, dazwischen unzählige Risse. Dann tauchte links von mir ein riesiges Gebäude auf und ein noch größeres umzäuntes Gelände, auf dem sich der brüchige Backsteinhaufen befand. 

Das Tor war geöffnet, und mein Reiseführer teilte mir mit, dass sich vor mir eine ehemalige Marmeladenfabrik befand. Ich betrat das Gelände, lief ziellos umher, und stellte bald fest, dass ich ganz allein war. Erfolgreich hatte ich mich irgendwo im Nirgendwo verloren.
Und dann hörte ich plötzlich Joe Cocker.

Ich musste eine Weile überlegen, ehe ich den Song erkannte. Ich hatte dieses Lied schon lange nicht mehr gehört, aber als Joe Cocker mit seiner knödeligen Stimme zu singen begann, wusste ich, dass just like you - i was such a rebel - so dance your own dance - and never forget, dass diese Zeilen unvergessen waren. N'oubliez jamais.
Gespannt lief ich um eine Häuserecke, hinter der ich die Musik vermutete. Und ich wurde nicht enttäuscht. Vor mir war eine Lagerhalle geöffnet, daraus drang das Lied nach draußen und inmitten der dunklen Halle stand ein Mann. Natürlich war es nicht Joe Cocker, aber er war ungefähr in dessen Alter.

Seine drahtige Gestalt bewegte sich auf mich zu, und zum Vorschein kam ein dünner Mann mit weißem Vollbart. Er trug eine Kapitänsmütze und eine kreisrunde schwarze Sonnenbrille. Er begrüßte mich herzlich und lud mich ein, mich genauer in seiner Lagerhalle, einer skurrilen Mischung aus Museum, Atelier und Bar, umzusehen.

Er verschwand in den Untiefen der Fabrik, kam wieder und reichte mir Datteln. Ich fühlte mich wie ein Schiffbrüchiger, der nach Tagen der Ungewissheit plötzlich eine paradiesische Insel erreicht hatte. - Und dabei handelte es sich um eine ehemalige Marmeladenfabrik in Warschau.

Sonntag, 18. Mai 2014

Flohmarkt



Sonntag. Und der Tag hält endlich, was er so sehr verspricht, was er in seinem Namen trägt: Sonne. Als ich aufwache, scheint sie schon hell ins Zimmer. Nichts macht mehr Sinn an solch einem Sonnentag, als nach draußen zu gehen. Also tun wir das.

Auf dem Flohmarkt sind unglaublich viele Menschen, und als wir durch das Tor gehen, schaue ich dich an und sage: "Ein Panoptikum der besten Sorte". Und damit meine ich nicht den Krempel, der hier verhökert wird, sondern die Leute.
Kilometerlang ziehen sich die Tische, randvoll bedeckt mit Plüschtieren, Kaffeetassen, Büchern, Kleidung, Antiquitäten und solchen, die es sein wollen. Es wird auf gefühlten tausend Sprachen gehandelt und die Luft riecht nach Dachboden oder Keller, obwohl wir auf einer riesigen Wiese spazieren.

Manchmal frage ich mich, wie viele Häuser es braucht, um all diese Sachen aufzubewahren. Welche Geschichten die Dinge erzählen, und wem sie mal etwas bedeutet haben. Und wer froh ist, endlich diese ganzen Erinnerungen los zu sein. Manchmal frage ich mich, warum wir unsere Herzen an Sachen hängen. Vielleicht, weil sie nur kaputt gehen können. Aber einem niemalsnie weh tun werden. Außer man findet sie nach Jahren wieder. Irgendwo verstaubt in einem Karton. Dann kann ein einziges Foto eben doch ins Herz schneiden.

Die Sonne brennt sich in unsere Haut hinein, und wir schlendern an den Ständen vorbei. Ich schaue mir den Wust an Plunder an, und denke, dass Flohmarkt eben nicht nur Kaufen und Verkaufen ist. Es ist geduldete, ja gar gewollte Schnüffelei. Denn mal ehrlich: Wen interessiert es nicht, was andere Leute so in ihren Schränken haben? Sehen, was andere so um sich horten? Welchen Sammelleidenschaften sie nachgehen? Man kann ja nicht einfach beim Nachbar an der Tür klingeln und sagen: "So, ich will jetzt aber mal in ihren Schrank schauen, wollte schon immer mal wissen, was es da so gibt". Nein. Das traut man sich nicht. Aber auf dem Flohmarkt, da ist das erlaubt. Da darf man sich sogar die besten Stücke raussuchen und dann in den eigenen Schrank stellen. Und selbst, wenn es nicht der Nachbar ist. Man duzt sich beim Handeln. Und bekommt, mit ein bisschen Glück, die Geschichte zur soeben erworbenen Kaffeedose gleich mit dazu.

Nach einer Stunde beginnen meine Füße angenehm zu schmerzen und wir gehen wieder nach Hause. In meiner Tasche befindet sich ein Foto. Schwarz-Weiß, ausgeblichen. Kind mit Finger im Mund. Ohne Geschichte. Die muss ich mir erst noch ausdenken. Woran ich mich aber erinnern werde, wenn ich dieses Foto nach einigen Jahren aus einem verstaubten Karton ziehen werde: Sonne, Sonntag, Flohmarkt, du und ich. Und das Foto wird mir nicht ins Herz schneiden, sondern mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Das geht nämlich auch.


Mittwoch, 14. Mai 2014

Eiswürfel



Ich lache verhalten. Du gibst dir einen Ruck. Zwischen uns der Tisch. "Zum Glück", denke ich. Du lehnst dich zu mir. Ich nehme mein Glas. Es ist leer. "Willst du noch was trinken?", fragst du. Ich sage hastig: "Nein". Du greifst meine Hand. Ich ziehe sie weg. - "Was hast du denn?".

Ich schweige.

Du kommst immer näher. Mit deinem Kopf, deinen Worten, deinen Gefühlen. Auf dem Glasboden ist ein Eiswürfel. Ich mache den Mund auf und kippe mir den kalten Klumpen hinein. Meine Zunge erfriert. Du guckst mich an. Ich schiebe den Würfel von der einen Wange in die andere. Und wieder zurück. Du guckst immer noch. Alles schmilzt. Ich habe eine Pfütze im Mund. Dann schlucke ich sie runter. Sie fließt in mich hinein. Durch mich durch. - "Was ist nur los mit dir?".

"Zu wenig", antworte ich kaltblütig.

Donnerstag, 8. Mai 2014

Katzen in St. Petersburg



Beim Aufräumen entdeckte ich die CD. Ich hatte sie nie gehört und so rutschte sie wohl mit der Zeit immer weiter nach hinten in den Schrank hinein. Als ich sie unter einer Staubdecke hervor zog, starrte ich für einen Augenblick verwirrt auf die Plastikhülle. Dann kam die Erinnerung wieder.

Ich saß in Sankt Petersburg in einem kleinen Restaurant in einer Seitenstraße des Newski Prospekts und aß einen Salat. Der Preis entsprach dem Geld, das eine Person in den Außenbezirken der Stadt für eine Woche zum Leben hatte.
Ich war beinahe allein in dem Restaurant, ich hatte einen Platz direkt am Fenster und konnte die vorbei ziehenden Menschen beobachten. Es dämmerte leicht, und ihre Silhouetten waren nicht mehr klar umrissen. Die Geister der Stadt huschten vorbei.

Im Restaurant, so hatte es zumindest den Anschein, lebte eine Katze. Sie saß neben mir am Tisch und zwinkerte mir unablässig zu. Noch nie zuvor war mir eine zwinkernde Katze begegnet, aber mir war auch noch nie eine Katze im Restaurant begegnet. Also nahm ich die Begebenheit einfach an und überlegte noch, ob sie vielleicht ein Augenleiden hätte.
Ein leises Klavierklimpern war zu hören, und ich konnte den Barkeeper sehen, wie er langsam und automatisiert Gläser abtrocknete. Die Katze verschwand hin und wieder, drehte ihre Kreise durch das Restaurant und setzte sich dann doch wieder zu mir und zwinkerte.

Ich hatte meinen Salat aufgegessen und legte das Besteck zur Seite. Dann trank ich den letzten Rest Jasmintee aus meiner Tasse. Der Kellner, der mir zuvor noch das Essen gebracht hatte, war verschwunden. Also ging ich zum Barmann und sagte ihm auf rudimentärem Russisch, dass ich gern bezahlen möchte. Er antwortete, dass gleich jemand kommen würde, also setzte ich mich an die Bar und wartete.
Eine Kellnerin und ein dünner Mann mit beigefarbenem Poloshirt, olivgrünen Sakko und einem rausgewachsenen Haarschnitt kamen zum Bartresen. Die Kellnerin lächelte freundlich-entschuldigend und kassierte. Der Mann stellte sich zu mir und sich vor. "Pavel" war sein Name, er drückte meine Hand, lächelte und gab den Blick auf seine gelben Zähne frei. Er sprach schnell und gab sich keine Mühe, langsamer zu sprechen, selbst als er bemerkte, dass ich mit meinem Russisch nicht hinterher kam.

Er erzählte, dass er Pianist in dieser Bar sei. Ich lauschte und stellte fest, dass die Musik wirklich verstummt war. Er griff in die Innentasche seines Sakkos und drückte mir eine CD in die Hand. Die sei von seiner Band. Im Gegenzug fragte er nach meiner Handynummer. Ich schüttelte lächelnd den Kopf und versuchte mich schnell zu verabschieden.
Pavel nahm nochmals meine Hand und sagte: "Do swidanja". Dabei zwinkerte er. Ich erkannte einen fadenscheinigen Zusammenhang und hatte plötzlich ein unangenehmes Gefühl im Bauch.

Als ich ging, blickte ich ein letztes Mal ins Fenster. Dort saß die Katze und schaute mir nach.

Dienstag, 22. April 2014

Lollyboy

Der Intercity stand in Hamburg-Harburg und der Schaffner meldete einen technischen Defekt im ersten Wagen. Allerdings sei dieser innerhalb einiger Minuten behoben, versprach die Lautsprecherstimme. Ich schaute aus dem Fenster, die malerische Tristesse des Bahnhofs umgarnte meine Augen. Kleinkinder im Großraumabteil quengelten wahlweise nach Mama oder Papa, liefen umher und schienen dem außerplanmäßigen Zwischenhalt keine Freude abzugewinnen.

"Ist hier noch frei?", ich blickte in dunkle Augen und nickte stumm. Er legte seine Jacke auf den Sitz, manövrierte seinen Koffer in die Gepäckablage über meinem Kopf, schob eine Plastiktüte zwischen die Sitzreihen. Dann nahm er seine Jacke, befestigte sie am herunter geklappten Tischchen und baute sein portables Kinoerlebnis auf. Er verkabelte sich und den Sitz. Sogleich fühlte ich mich im Kabelsalat gefangen. Ich schielte auf seine Unterarme, es waren schöne dunkle Haare darauf. Ich hatte den abrupten Instinkt, darüber streichen zu wollen. Eine unbewusste Kindheitserinnerung, mein kleiner Elektrakomplex.

Er zog eine Tüte Chips mit Paprikageschmack aus seiner Plastiktüte und stellte sie neben den Bildschirm, auf dem Aliens ihr Unwesen trieben. Danach wickelte er einen großen weiß-pink gemusterten Lolly aus der Folie und schob ihn in seinen Mund. Er atmete hastig. Er war jenseits der 30 und lutschte aufgeregt an seinem Lolly. Irgendetwas irritierte mich, aber ich konnte nicht ausmachen, was es war.
Keine Minute später zerbiss er bereits den Lolly. Es krachte unangenehm laut in seinem Mund, während er den Zuckerbrocken zermalmte. Unablässig starrte er auf den Bildschirm und griff beinahe hypnotisiert zur Chipstüte. Diesmal knisterte es neben mir, die Tüte war innerhalb weniger Minuten geleert. Mit dem Kopf im Nacken schüttete er sich die letzten Reste in den Schlund.

Immer noch stand der Zug am Harburger Bahnhof. Ich schaute angestrengt aus dem Fenster und versuchte irgendein Geschehen auszumachen, das meine Aufmerksamkeit umlenken würde. Aber an diesem Ort gab es nichts, was die Penetranz der Nahrungsaufnahme meines Sitznachbarns übertrumpfen konnte.
Eine Angestellte des Bordbistros zuckelte mit ihrem kleinen Wagen durch das Abteil. "2 Snickers, bitte", hörte ich meinen Nebenmann sagen. Er öffnete die Verpackung und drückte sich die Schokoriegel in den Mund. Ich vernahm ein leises Schmatzen an meinem Ohr. Dann war es für einige Minuten ruhig. Er war in seinen Film vertieft, griff dann jedoch abermals in die Plastiktüte. Er zog einen weiteren Lolly hervor. Wieder lutschte er energisch darauf herum. Ich schaute ihn an.

Er musste meinen Blick bemerkt haben, entkabelte sein rechtes Ohr und sah nun mich an. Langsam glitt die weiß-bunte Kugel aus seinem Mund. Dann hielt er sie direkt vor mein Gesicht. "Willste auch einen?", fragte er, während er sich mit der Zungenspitze die Lippen leckte.

Ich schüttelte den Kopf, woraufhin er sich den Lolly genüsslich zurück in den Mund schob. Ich blickte aus dem Fenster und hörte es im Kiefer nebenan wieder heftig krachen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich seufzte erleichtert.

Dienstag, 15. April 2014

Paris I


Der Vorstadtzug spuckte mich am Gare du Nord aus. Es wimmelte von Menschen. Ich war in einem Ameisenhaufen gelandet, und ich bemühte mich den unsichtbaren Straßen zu folgen. So klammerte ich mich mit den Augen an den Hinweisschildern fest und fand meinen Weg in den Untergrund.

Es roch nach Exkrementen, Passanten rauschten vorbei, alles ging ganz schnell und ich versuchte mit dem vorgegebenen Tempo Schritt zu halten. Ich wuchtete meinen Rollkoffer die Treppen hinauf und hinunter und suchte mir meinen Weg durch das Labyrinth. Am Ende leuchtete ein neonfarbener pinker Punkt. Die Metro rauschte hinein, öffnete ihre Türen und ich trat ein. Scheppernd fuhr der Zug durch die dunklen Rohre. Ich hielt mich an einer Stange fest und grinste mein Spiegelbild im Fenster an. Ich war angekommen. Salut, Paris.

Ich lächelte weiter, schaute nach links und nach rechts, guckte in Augen hinein und stieg an der nächsten Station aus. Wieder folgte ich einem komplexen unterirdischen Irrgarten, diesmal musste ich zum dunkelgrünen Punkt finden. Als ich fast angekommen war, hielt mich eine Stimme auf. Ich drehte mich um und sah in eines der Gesichter, das ich zuvor noch angelächelt hatte. Ein Schwall französischer Worte ergoss sich in meine Ohren und ich hatte Mühe, bekannte Wörter heraus zu filtern um die Botschaft zu entschlüsseln.

Offensichtlich komplentierte mich mein Gegenüber. Er hatte einen käsigen Teint und Straßenköterlocken. Er trug Kleidung in Schlammfarben, aber seine Augen leuchteten und er war schüchtern und mutig zugleich. Über seine Lippen wanderte die Frage nach einem gemeinsamen Getränk. Ich war überfordert, suchte nach Worten und erklärte mich stotternd. Er nickte, sagte noch etwas und war so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Verwirrt ließ er mich zurück. Ich stand in der Metro, legte eine Hand auf meine Wange und fühlte ihre Wärme.

Samstag, 5. April 2014

Für E.


Die Nachtluft ist verbrannt und zugleich betörend. Ich trage meine Lederjacke und laufe ziellos durch die Stadt, weil ich nicht ruhig sitzen kann, weil ich mich bewegen muss, weil sich alles so verheißungsvoll anfühlt.
Du weißt, was ich meine.

Dies ist die erste Nacht. Die erste Frühlingsnacht in diesem Jahr. Sie ist längst ausgetrunken, aber unten auf dem Grund verbirgt sich noch ein winziger Rest. Und solange der nicht in meine Kehle gewandert ist, kann und will ich nicht schlafen. Also lege ich den Kopf in den Nacken und drehe mich, während sich über mir die Sterne drehen.

Ich gehe nach Hause, weil ich nicht wüsste wohin sonst. Mit mir. Und auf den Treppen merke ich, dass ich angekommen bin. Dass ich genau hierhin wollte. Und dann wird mir bewusst, dass das alles nur mit dir Sinn machen würde. Dass ich links sitzen würde, und du rechts. Und wir würden im Dunkeln flüstern und die Menschen, die Autos, die Sterne beobachten. Du würdest rauchen. Wir würden reden. Oder schweigen. Und irgendwann würden wir unsere eigenen Verschwörungstheorien aufstellen, an die nur wir glauben können. Alles ist nichts. Und nichts ist alles. Zumindest für diese eine Nacht.

Langsam würde ich zur Ruhe kommen, laut gähnen und müde werden, während ich das letzte bisschen Nachtluft herunter schlucke. Wir würden aufstehen, der Schlaf würde sich auf uns stürzen und wir würden es gerade noch schaffen uns eine gute Nacht zu wünschen, ehe er uns mit plötzlicher Kraft überwältigt.

Ich sitze hier und weiß nicht, wie ich diese Nacht austrinken soll. Wahrscheinlich ist sie schon längst leer. Alles auf ex. 

Du fehlst.

Freitag, 4. April 2014

Noch einmal.


Noch einmal auf das Handy schauen. Noch einmal "Ja" sagen wollen, und stattdessen nicht "Nein" sagen können. Noch einmal die Beherrschung verlieren. Noch einmal das Licht anmachen. Noch einmal die Vorhänge zur Zeit schieben. Noch einmal auf die nachttote Straße schauen. Noch einmal warten. Noch einmal den Autos lauschen. Noch einmal Hyänen im Bauch. Noch einmal die Tür öffnen. Noch einmal ein schiefes Grinsen im Gesicht. Noch einmal die Hand ausstrecken. Noch einmal du.

Montag, 31. März 2014

Gerhard


 (Quelle: Tumblr)
 
Die Farben waren kräftig, das dicke dunkle Rot auf der riesigen Leinwand löste etwas in mir aus. Blut, Ketchup, Lava, ich war unsicher an was es mich erinnerte, aber ich schaute das Bild fasziniert an. Vorsichtig berührte eine Hand meine Schulter, jemand hinter mir nannte mich fragend und leise bei meinem ganzen Namen. Ich drehte mich um und schaute in ein bekanntes Gesicht. Es war ein Jahrzehnt vergangen, in dem ich ihn nicht gesehen hatte. Er schien nicht älter geworden zu sein, ich erkannte ihn sofort. Nochmals wiederholte er meinen Vor- und Nachnamen. Ich schüttelte den Kopf und sagte: "Nein, ich heiße jetzt Siewert mit Nachnamen". Er verstand sofort und sagte: "Oh, Glückwunsch", deutete dann auf meinen Finger. "Kein Ring?", fragte er lächelnd. Seine Aufmerksamkeit erstaunte mich, ich schwieg kurz, dann sagte ich: "Nein, kein Ring".

Sonntag, 23. März 2014

Busfahren II

Ich habe meinen Lieblingsplatz im Bus. So, wie andere Leute ihren Lieblingsplatz im Kino oder Theater haben. Ich sitze gern hinten rechts, so kann ich alles beobachten. Denn man weiß nie, in welchem Film man nun landet, wer am Lenkrad Regie führt und durch beabsichtigt heftiges Bremsen oder rasante Kurven die Dynamik des Stücks vorgibt. Zwischen Zuschauern und Schauspielern kann man nicht unterscheiden. Aber jederzeit kann man den Stop-Knopf drücken und einfach aussteigen, wenn man keine Lust mehr hat.

Der Abend ist ruhig. Mein Kopf lehnt an der Scheibe, ich schaue nach draußen und beobachte die vorbei ziehenden Lichter der Stadt. Männlicher Nachwuchs mal vier steigt ein und setzt sich um mich herum - das Stück beginnt sofort: Sie reißen sich die Kleider vom Leib und präsentieren einander ihre verzweifelt erkämpften Muskeln an den noch nicht ausgewachsenen dünnen Ärmchen.
Jeder ist einseitig am Ohr verkabelt, es mutet professionell an. Während sie also nervös und halb entblättert auf ihren Sitzen umher rutschen, endet die erste Szene.

Szene zwei beginnt mit wilden Gesten und Mündern, die sich auf und zu bewegen. Die geformten Laute kann ich nicht als Worte verstehen, aber sie werden durch wilde Handbewegungen unterstrichen, sodass ich annehme, dass sie sich auf Gebärdensprache unterhalten. Ich will schon begeistert applaudieren, da merke ich, dass ich mich irre.
Jeder versucht mühevoll, die Musik, die in ihre Ohren hinein wummert, möglichst originalgetreu wiederzugeben. Das Scheitern macht einen wichtigen Bestandteil dieser Aufführung aus, und ich frage mich, ob sie ihre Handlungen absichtlich so überziehen um den Zuschauer zu belustigen. Jedoch sind sie so ernsthaft bei der Sache, dass ich diesen Gedanken verwerfe.

In Szene drei wird eine lange Zeit geschwiegen. Dann holt einer Lederhandschuhe hervor und bindet sie sich mit einem eigens daran genähten Klettverschluss zu. Während dessen wirft sein Gegenüber immer wieder verwirrte Wortfragmente ein, reißt die Augen dabei weit auf und scheint seinen soufflierten Text bereits beim Aussprechen wieder vergessen zu haben.

Eine erstaunliche Wendung tritt in Szene vier ein: Der Lederhandschuhboy zieht ein Butterflymesser aus der Jackentasche hervor, traut sich jedoch nicht seine einstudierte Messerakrobatik dem erlesenen Publikum in voller Performance zu präsentieren. Es bleibt bei einer heimlichen Handbewegung, dem unachtsamen Zuschauer beinahe verborgen.

Enttäuscht drücke ich den Stop-Knopf. Als ich gehe, lächle ich dem Sängerknaben aufmunternd zu, doch er scheint mit meinem Feedback bereits überfordert. Dann schließen sich die Bustürvorhänge hinter mir, während das Ensemble weiter in die Nacht hinaus fährt und für den großen Auftritt probt.

Freitag, 14. März 2014

Sankt Petersburg I

06.05.2013

Der Geruch der Metro brennt sich in deiner Nase ein. Bevor du die Metro siehst, riechst du sie schon. Eine Mischung aus Treibstoff, muffigem Keller und Halogenlicht.

Hier findet die beste Verkaufssendung statt, die du je gesehen hast. Da steigt einer mit 'ner Trainingstasche ein - und darin befindet sich ein Pappkarton, in dem er Kartoffeln, Möhren und Kohl versteckt hat. Und dann nimmt er sein Multifunktionsmesser aus 1-A-Plastik und zeigt, wie man damit Gemüse schneiden kann. Ein anderer versucht Handys zu verkaufen, ist aber nicht so überzeugend wie der Messerverkäufer. Weniger Perfomance und flammende Rede. An der nächsten Station steigt er wieder aus. Und verschwindet mit Gemüseresten im Untergrund.

Sonntag, 9. März 2014

Herz 10


Die Luft kriecht verheißungsvoll in meine Nase und macht mich süchtig. Jeder Atemzug wird zum Vergnügen, ich bekomme das Lächeln nicht aus dem Gesicht.
Der Frühling stand heute Morgen überraschend vor der Tür, wollte nicht reinkommen. Hatte Blumen in der Hand und sein Parfum wehte mir verführerisch entgegen. Er zog mich nach draußen und ich konnte, nein, wollte mich nicht wehren als er nach meiner Hand griff. Und dann taten wir das, was wir immer tun, wenn er sich in seiner Umtriebigkeit in meine Straße verirrt. Wir spazierten durch die Stadt, genossen still das Glück, wieder zusammen zu sein. Dieses Jahr ist er früher als sonst bei mir aufgetaucht. Manchmal frage ich mich, ob er mich wohl auch vermisst, während er durch die Länder reist und die Menschen mit seinem Charme verzaubert. Auf dem Heimweg wurde er langsamer. An meiner Türschwelle hielt er inne. Ich fragte ihn schüchtern, ob er noch mit hoch kommen möchte. Aber er schüttelte den Kopf, küsste mir die Stirn und ging. Ich schaute ihm hinterher, er drehte sich nochmal um: "Ich komme wieder", sagte er. "Wann?", fragte ich. Aber er zuckte nur grinsend mit den Schultern.


Freitag, 7. März 2014

Mitfahrgelegenheit



Der Himmel über der Stadt ist grau. Ich stehe auf diesem viel zu kleinen Parkplatz in bester Lage und beobachte die Autos. Sie kommen an, fahren weg, parken sich zu, rangieren. Die Türen und Klappen sind scheinbar wahllos geöffnet. Menschen stehen davor, stopfen erst ihre Sachen und schließlich sich selbst in die kleinen Blechdosen auf Rädern.

Meine Tasche ist schwer, meine Hände sind kalt, und mein Blick wandert ungeduldig hin und her. Der Bahnhof und sein Minutentakt sind nur wenige Meter entfernt. Ich höre die Züge, könnte jetzt am richtigen Gleis stehen und wüsste, wann mein Zug einfährt, wann er abfährt, durch welche Städte er fährt, wann ich schließlich ankomme, wie lang die Fahrt dauert und könnte entscheiden, zu wem ich mich setze, oder zumindest, zu wem ich mich nicht setze.

Stattdessen stehe ich hier und warte. Warte auf ein Auto, das mich mitnimmt und irgendwann irgendwo wieder ausspuckt.
Ich bin nicht allein. Neben mir steht eine Frau mit Rollkoffer, die auf ihrem Handy herum tippt. Ein Junge mit schwarzer Mütze und Kopfhörern. Ein Mann mit Einkaufstüten. Zwei Mädchen mit großen Rucksäcken. Vielleicht sitze ich gleich neben ihnen, vielleicht auch nicht. Immer, wenn ein neues Auto ankommt, gehen ihre Köpfe kurz hoch, um sich danach wieder zu senken.

Es ist beinahe skurril, wie wir hier stehen, die Wagen und ihre Fahrer mustern und nicht wissen, wer da kommen wird, zu wem wir einsteigen und wem wir schließlich einige Scheine für die geleisteten Dienste in die Hand drücken werden. Es ist ein billiges Geschäft, das wir hier betreiben. Aber wir sind jung, und wir wollen schnell an unser Ziel kommen. Ohne Umstiege. Aber dafür mit Raucherpause.

Schließlich kommt der Wagen, auf den ich gewartet habe. Der Fahrer steigt aus, er drückt mir die Hand. "Stefan", stellt er sich vor. Er nimmt meine Tasche und verstaut sie im Kofferraum. Ich setze mich auf die Rückbank hinter ihn. Der Kopfhörerjunge steigt wortlos auf der anderen Seite ein. Wir fahren los.
Wir lassen die Stadt hinter uns und wechseln auf die Autobahn. Im Rückspiegel begegnen mir Stefans Augen ein paar Mal zu oft. Ich schaue erst aus dem Fenster und dann auf meine Uhr. Noch etwa vier Stunden, dann ist es vorbei.

Mittwoch, 5. März 2014

Ohrenschmalz

(Quelle: Tumblr)


Du hast mit deinem Ohrschmalz gekrümelt, und nun hängt er dir wie ein Brotkrumen am Mundwinkel. Ich möchte ihn gern mit meiner feuchten Zungenspitze entfernen, möchte dir die Lippen lecken und mich an dem bitteren Schmalz erfreuen, aber ich stehe nur neben dir und frage: "Wie geht's?", während du mit dem Zeigefinger in deinem rechten Ohr bohrst.

Donnerstag, 27. Februar 2014

Zagreb


9. September 2013

Ich saß in Zagreb und es regnete elendig. Über den Bergen hatte es sich eine Wolkenfront bequem gemacht. Sie saß dort noch gemütlicher als ich und hatte nicht vor, sich in irgendeine Richtung zu bewegen. Sie regnete sich ab. Regte sich ab. Und erregte Gemüter. Explizit meines.

So ging ich durch die mir mittlerweile bekannten Straßen und musste doch immer wieder in überdachten Innenhöfen Rast machen. So sehr regnete es. Man machte mich bewegungsunfähig. Grässlich. Ich setzte mich in ein Bistro und schaute aus dem Fenster.

Kroatische Mädchen, vielleicht waren sie dreizehn oder vierzehn, machten Schularbeiten und streckten ihre langen dünnen Beinen an der Fensterfront aus. Angebot & Nachfrage. Ihre Finger tippten gewöhnt auf den Bildschirmen ihrer Smartphones herum. Sie aßen Salat und starrten in den Regen hinaus. Unterhielten sich gelangweilt-lässig über Themen, die ich nicht verstand.
Mit einem Zahnstocher unter strenger Handspiegelbeobachtung säuberte sich eine von ihnen die Backenzahnzwischenräume. Die Prozedur der semiprofessionellen Zahnreinigung dauerte sicherlich fünf Minuten. Sie spitzte die Lippen, gab Küsschenlaute von sich, während sie wieder ihr Handy anblickte. Sie war sehr aufdringlich in ihren Bewegungen, das machte sie von Anfang an unsympathisch. Ihre Fingernägel waren weiß lackiert, die ihrer Sitznachbarin auch. Nach dem Salat folgten Burger, die sie sich in ihre Köpfe hinein drückten.

Ich bildete mir zum ersten Mal auf dieser Reise ein, in fremden Gesichtern bekannte Personen zu erkennen. Ich wollte hier niemandem begegnen. Vielleicht war es das. Ich hatte den Gedanken an wirklich andere Menschen vergessen.
Der Regen war zäh.

Dienstag, 25. Februar 2014

Budapest




29. August 2013

Budapest offenbarte sich mir heute Nachmittag. Alles im Umbruch, hundert Baustellen. Mein Herz schlägt in Osteuropa dann doch immer ein bisschen aus dem Takt, höher und wilder, wie die Städte. Schon am Bahnhof: Grelle Leuchtreklame, Gurken verkaufende Mütterchen, Schurken, die mein Geld tauschen wollen.
Ein alter Trolleybus, in den ich steige, ohne Fahrkarte. Der Busfahrer kann mir keine verkaufen, und ein englischsprechender huschiger Typ erklärt mir, dass bestimmt eh keiner zum kontrollieren kommt. Trotzdem versucht er noch mir ein Ticket zu verkaufen, überteuert natürlich. An einer verabredeten Haltestelle steige ich aus. Die Sonne scheint, es ist heiß. Auf den Bänken sitzen Klabautermänner und Kobolde.

Ich stehe eine Weile im Budapester Sommer herum, ehe Murat am Straßenhorizont auftaucht. Er trägt eine kurze, weite Jogginghose und Nikes, schultert unaufgefordert meinen Rucksack und steigt mit mir in den nächstbesten Bus. Zumindest kommt es mir so vor. Wir fahren durch die Stadt, steigen aus, laufen weiter, und irgendwann finde ich mich in einem russischen Geschäft wieder, eine komische Mischung aus Gemüseladen, Kiosk und Souvenirshop.
Murat bestellt ein Taxi. Wir warten draußen und ich stelle Fragen und Murat erzählt ein bisschen. Geboren in Turkmenistan, spricht Russisch, Türkisch, Persisch und Englisch, hat in Istanbul gelebt, zuletzt in Kiev, und nun eben Budapest.

Eine Taxifahrt, weitere hundert umfahrene Baustellen, und die halbe Stadt später, lade ich mein Gepäck ab. Murat nimmt eine angebrochene Flasche Wein in seine rechte Hand, und so schlendern wir durch Nachbarschaft und Nachmittagshitze. Alberne Touristenfotos vor Gebäuden und Skulpturen. Nudeln für 1000 Forinth. Später laufen wir an der Donau entlang, und weil ich schon zuvor beim Überqueren der Straßen einen unbeholfenen Eindruck gemacht haben muss, nimmt er nun meine Hand, wie die eines Kindes, auf das man aufpassen muss, wenn man die Straßenseite wechselt. Zusammen klettern wir Mauern hoch, weil wieder irgendeine Baustelle vor uns wartet, und steigen über Straßenbahngleise, während über Budapest die Sonne untergeht.
"This is a great adventure", sage ich zu Murat. Und der grinst mich an.

Sonntag, 23. Februar 2014

Busfahren I

Irgendwann habe ich dir von meinen Albträumen erzählt. Ich bin an einem mir unbekannten Ort. Ich weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin. Und wie ich wieder verschwinde. Meistens wird es gerade dunkel. Ich bin allein. Ich finde eine Haltestelle. Für Bus oder Bahn. Aber der letzte Bus ist bereits gefahren, und die letzte Bahn habe ich verpasst. Und dann, dann bin ich verloren.

Du hast mir zugehört, das Lenkrad in der linken Hand, die rechte Hand auf die Kasse gestützt. Und nach einer Weile hast du gesagt: "Wenn du nochmal so einen Traum hast, dann komme ich einfach mit meinem Bus gefahren und hole dich ab". Seitdem sind die Albträume verschwunden.

Die Nacht in der wir uns kennen lernten, war kalt. Ich stand allein an der Haltestelle am Rande der Stadt neben dem riesigen Parkplatz. Du kamst mit dem Bus gefahren, ich stieg ein, zeigte dir meine Karte. Ich weiß nicht mehr, was du gesagt hast, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es irgendwas mit "Mädchen" und "allein in der Kälte rumstehen" war. Ich hatte diese Mütze mit Gesicht auf, und sah sicherlich ein bisschen sympathisch-beknackt aus.

Wir unterhielten uns. Und so wurde aus einer geplanten Fahrt zum ZOB eine weitere Runde durch die nächtliche Stadt. Und noch eine. Und noch eine.
Das ist zwei Jahre her.

Heute stehe ich neben dir, und frage dich wie selbstverständlich, ob du etwas zu trinken dabei hast. "Klar", sagst du, und drückst mir eine 1,5-Liter Plastikflasche in die Hand. Ich entziffere die kyrillische Schrift und lese langsam den Namen dieser russischen Limonade vor. Die Flasche zischt beim ersten Öffnen und ich nehme einige durstige Schlucke. "Das ist ja Energy!", sage ich irritiert. Und du lachst. Dein Grinsen. Deine rechte Hand auf der Kasse. Dein Goldkettchen. Die oberen Hemdknöpfe, die du eigentlich nicht geöffnet haben solltest. Dein dicker Schädel. Deine Glatze. Deine blauen Augen. Deine Geschäfte. Deine Witze. Dein Straßendeutsch, wie du es nennst. Und deine Geschichten.

Wir fahren durch die Nacht, einer festen Linie folgend. Leute steigen ein, Leute steigen aus. Du bringst sie in deinem Bus von A nach B. Und von B wieder zurück nach A. All die Gesichter dieser Stadt, sie ziehen an dir vorbei. Flüchtige Mitreisende. Und auf dem Weg verlieren sie ihren Rucksack, schlafen ein, vergessen auf den "Stop"-Knopf zu drücken, schreien durch den Bus, kotzen auf den Boden. Irgendwas ist immer.

Du sammelst die Geschichten, und wenn wir uns sehen, dann erzählst du mir von den Menschen. Manchmal glaube ich, dass du einer der wenigen bist, die das Leben verstanden haben. Die sich irgendeinen Sinn aus dem ganzen Hier und Jetzt gezogen haben. Und den Mut haben, glücklich sein zu wollen.

Wenn ich vom nächtlichen Busfahren schwärme, dann ist das nicht nur mein Kopf, der an der Fensterscheibe klebt. Dann ist das nicht nur die Musik, die mir in die Ohren faucht oder säuselt. Dann sind das nicht nur die Lichter der Stadt, die funkelnd vorbei ziehen. Wenn ich vom nächtlichen Busfahren schwärme, dann bist du am Steuer und ich daneben.




Samstag, 22. Februar 2014

Anfang



Ein Anfang ist ein Schritt. Er ist leise. Oder laut. Stampfend oder zart. Bestimmt oder zögerlich. Klein oder groß. Wahllos oder zielgerichtet. Ein Schubser ins kalte Wasser. Oder der Sprung ins Meer. Ein Anfang geht schnell. Zwei, drei Sekunden. Oder er braucht Zeit. Eine halbe Ewigkeit. Anfangen kann einfach sein. Oder verdammt schwer. Manchmal erfordert es Mut, manchmal ist nichts leichter als das. Manchmal dreht man sich dabei im Kreis. Manchmal kann man es kaum erwarten, endlich geradeaus zu fahren.

Ein Anfang ist ein Entschluss. Ein Fingerzeig. Ein Lächeln. Ein klickender Anschnallgurt. Ein Biss. Ein Schlüssel. Ein Geräusch. Ein Regentropfen. Eine Bewegung. Deine Hand. Ein Zufall. Ein Bruch. Ein Flicken. Ein erstes Mal. Oder ein allerletztes. Ein Flugzeug. Eine Taste. Eine Hoffnung. Ein Wunsch. Ein Entschluss.

Und das hier. Das hier ist ein Anfang.
Und zwar meiner.