Samstag, 30. August 2014

Der erste Schultag


Ich führe den durchsichtigen Plastikbecher an meinen Lippen und nippe an dem Wasser. Wir sitzen uns am Tisch gegenüber. Um uns herum hängen Werbeplakate mit unbezwingbar modernen Menschen unserer Zeit. Wir haben das Verkaufsgespräch hinter uns, ich habe meine Unterschrift gesetzt und du hast wahrscheinlich deine Prämie bekommen.

Du hast mich sofort geduzt und ich habe dich sofort angelächelt. Macht man das? Du hast nach meinem Personalausweis gefragt und ich habe dir meine Passfotogesichter der letzten Jahre gezeigt. Macht man das?

Wir kennen uns vielleicht zwanzig Minuten. Du weißt nichts über mich, aber hast dir aufmerksam mein Geburtsdatum gemerkt. Was passiert, wenn der Vertrag unterschrieben ist? Was passiert, wenn man eigentlich gehen könnte, aber viel lieber sitzen bleibt? Du erzählst mir von deinem Leben, fängst irgendwo in der Mitte an, springst zwischen den Zeiten und während ich deine Schneidezahnlücke fasziniert anstarre, bist du plötzlich in deiner Kindheit. Hattest du diese Lücke damals schon?

Dein erster Schultag. Der Unterricht war vorbei, die Kinder liefen aus den Klassen zu ihren Eltern. Die drückten ihnen Schultüten in die Hand. Nur für dich gab es nichts. Während die anderen die Hände voller Süßigkeiten hatten, blieben deine leer. "Meine Eltern konnten nichts dafür", sagst du entschuldigend. Selbst jetzt noch. "Sie kannten das halt nicht".
Du schiebst mir meinen Personalausweis über den Tisch entgegen. "Weißt du", fügst du zögerlich hinzu, "ich habe auch einen deutschen Pass. Aber in solchen Momenten merkst du eben doch, dass du ein Ausländer bist". Und dann zuckst du mit den Schultern und lachst. Immerhin könntest du alle Schlager von Helene Fischer mitsingen, sagst du. Das wäre doch auch ziemlich deutsch.

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