Mittwoch, 29. Juli 2015

Sommerregen




Wenn ich von Sommerregen sprach, dann meinte ich damit kühle Tropfen auf meiner schweißnassen Haut. Wenn ich von Sommerregen sprach, dann dachte ich an Schuhe ausziehen, barfuß sein und durch Pfützen springen. Ich sah mich klitschnass durch den Wolkenbruch rennen, der der Welt für einen Moment Abkühlung verschaffte. Wenn ich von Sommerregen sprach, dann kribbelte es aufgeregt in meiner Nase, die sehnsüchtig auf den altbekannten Duft von feuchter Erde wartete. Wenn ich von Sommerregen sprach, dann träumte ich mir meine Hand in deine.

Es ist Ende Juli, viel zu kalt, der Himmel dunkelgrau und meine Blumen auf dem Balkon ersaufen. Ich stehe am Fenster und starre in den Sommerregen, und meine Hand, meine Hand, die erstickt in der Hosentasche.


Sonntag, 26. April 2015

Foudroyant




Der Handkuss ist - an sich genommen und korrekt ausgeführt - eine harmlose Geste. Die Berührung verharrt in ihrer Andeutung und scheint fast abrupt in ihrem natürlichen Ablauf unterbrochen zu werden. Der Handrücken und die Lippen halten für einige Sekunden, nur wenige Millimeter voneinander entfernt, inne, der Kuss bleibt unvollendet und doch sehnsüchtig erwartet.

Eine Infektion beginnt meist unbemerkt. Die ersten Symptome sind harmlos. Manchmal spürt man jahrelang nichts davon, während sich die Krankheit schleichend im Körper ausbreitet, durch die Venen kriecht, die Organe an sich reißt, die Knochen befällt und schließlich im Endstadium das Hirn besiedelt. Manchmal bricht sie bereits nach wenigen Tagen aus, ergreift Körper und Verstand und führt in ein nicht heilbares Delirium.

Die Nächte im Krankenhaus sind lang und dunkel. Das weiße Flurlicht kriecht unter der Tür hindurch in mein Zimmer. Ich liege in meinem weißbezogenen Bett und starre auf die hellen Streifen, die sich über den Boden ziehen und allmählich von der Dunkelheit gefressen werden. Wenn ich aus dem Fenster schaue, dann sehe ich die schwarzen Konturen der Stadt im Nachthimmel. Hin und wieder bemerke ich schnelle Schritte auf dem Gang, manchmal denke ich, dass ich gerade ein leises Wimmern oder einen gequälten Schrei gehört habe. Ich spüre dann meinen Herzschlag und das ist ein gutes Gefühl.
Schlaflosigkeit ist eine Nebenwirkung von dem Mittel, das tröpfchenweise in meinen Arm fließt. Wenn mir langweilig ist, drücke ich auf die Nadel, die in meiner Haut steckt. Die Ärzte sagen, wenn ich dann einen pieksenden Schmerz spüre, ist das ein gutes Zeichen. Ich fühle nichts.

Deine Fingerknöchel trommeln leise an der Tür. Ich antworte nicht. Als das grelle Licht mitsamt deiner schwarzen Silhouette in den Raum huscht, bin ich geblendet und muss kurz blinzeln. "Hallo", sagst du, während du dich zu mir ans Bett stellst und routiniert die Kabelage überprüfst mit der ich verbunden bin, "ich habe nicht viel Zeit".
Ich nicke und schaue dich an. Du blickst zurück mit deinen kühnen Augen, dann kniest du dich vor mein Bett und lässt deine Hand unter meine Decke wandern. Ich strecke dir meine mit Haut umhüllten knochigen fünf Finger entgegen und du ziehst sie vorsichtig zu dir. Du schiebst deinen Mundschutz unter dein Kinn und flüsterst warme süße Worte. Ich kann auf dich herunter schauen, während du meine Hand langsam zu deinen Lippen führst. Die Bewegung endet wie eingefroren vor deinem Mund, ich spüre deinen Atem auf meinem Handrücken. Dann legst du meine Hand zurück unter die Bettdecke. "Ich bin ungeduldig", wispere ich. Wortlos drehst du dich um und gehst.

Du stehst schon im Türrahmen. "Ich weiß", sagst du. Und dann fügst du hinzu: "Ich habe dich infiziert".

Donnerstag, 9. April 2015

Jungs wie du - II





Vielleicht freut es dich, wenn ich deine Geschichte hier aufschreibe. Vielleicht freut es dich, wenn ich dir sage, dass du mir so langsam ans Herz wächst. Und genau dann kommt der Punkt, an dem es schon wieder Zeit ist, loszulassen. 7 Monate kennen wir uns jetzt. 7 Monate, in denen du dich ganz schön verändert hast. Vor einigen Tagen habe ich dir ein buntverpacktes Geschenk in die Hand gedrückt. Zum Geburtstag. Da hast du mich zum ersten Mal umarmt. Und danach schüchtern grinsend auf den Boden geschaut.
Ich kann gut verstehen, dass es dir nach all dieser Zeit schwer fällt, genau jetzt zu gehen. Wahrscheinlich bist du lange nicht mehr irgendwo richtig angekommen. Vielleicht gefällt dir das Gefühl, abends zu wissen, wo du morgens aufwachst. Und dich dann nicht fragen zu müssen, wo du eigentlich gerade bist.

Ich stehe neben dir im Türrahmen und versuche dich zu überreden, trotzdem einen Schritt nach vorn zu wagen, auf unsicheren Boden. Du zögerst, schüttelst den Kopf. Sagst, dass du nicht mitkommen willst. Schließlich würdest du doch in zwei Monaten eh im Knast landen. Da bräuchtest du jetzt auch kein neues Zuhause mehr. Jetzt antworte ich dir mit einem Kopfschütteln und sage, dass das Unsinn ist. Dass du nicht im Gefängnis landen wirst. Solange du nur den Weg weiter gehst, den du hier begonnen hast. Auch wenn er vielleicht steiniger und schwieriger ist als die dunklen Schleichwege, die du zuvor entlang gerannt bist.

Tatsächlich fahren wir eine Stunde später zusammen mit der Bahn. Ich habe uns Eis gekauft, wir sitzen schweigend nebeneinander und lassen die Schokoglasur beim Abbeißen knacken. Ich frage mich, was wohl andere Leute denken, wenn sie uns hier so sitzen sehen. Ob sie sich fragen, wie wir miteinander verbunden sind, und welche Antwort sie sich zusammen reimen. Immerhin erkennt man unsere Schicksalsgemeinschaft an dem Eis.

Der Zug bringt uns an den Rand der Stadt, dort laufen wir die schläfrige Hauptstraße entlang, deuten auf die Häuser, die uns gefallen und in denen wir gern wohnen würden. Am Ende der Allee erstreckt sich ein riesiges Gelände, darauf kleine und große Gebäude, Grasflächen, uralte Bäume. Die Anlage beherbergt eine Mischung aus Sanatorium, Alten- und Kinderheim. Du lachst: "Das ist doch ein Krankenhaus, hier". Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue die noch kahlen Zweige der Bäume an, die sich in den blauen Himmel bohren. "Das perfekte Rentnerparadies", denke ich, grinse in mich hinein und gebe dir schweigend Recht.

Schließlich stehen wir im Korridor, die Möbel gleichen einem Sammelsurium, es fehlen Bilder an den Wänden und irgendwie wirkt alles lieblos. Wir schauen uns das Zimmer an, du verziehst nicht einmal das Gesicht, ich weiß nicht, was in dir vorgeht. Als ich noch in dem Raum stehe, gehst du um die Ecke, die Tür zur Feuertreppe ist geöffnet, auf dem Gitter steht ein Plastiksstuhl. Ein provisorischer Balkon. Du stützt dich auf das Geländer, die Sonne scheint dir ins Gesicht, du blickst in die Ferne.

Wir gehen weiter durch die breiten dunklen Flure, biegen um Ecken. Ich bemerke eine Zimmertür, darauf steht mit blauem Edding geschrieben: "Eines Tages wird das Leben schöner sein".
Am Ende der Führung stehen wir mit denjenigen zusammen, die dich hier begleiten könnten. Als wir uns verabschieden, endest du mit einer Geste, die ich nicht erwartet hätte. Du klopfst dem älteren Mann mit der Nickelbrille auf die Schulter. "Merci, mon frère", sagst du.

Auf dem Weg zum Bahnhof, laufen wir die lange Straße abermals entlang. Du bleibst stehen, drehst dich nochmal um und machst ein Foto davon. Dann ein Bild von uns. "Als Erinnerung", ergänzt du.
Ob du wieder kommen wirst? Ich weiß es nicht. Vielleicht. Schließlich ist sie ja immer noch da. Die Hoffnung auf ein schöneres Leben. Die Hoffnung die man hat, wenn man ein Junge ist wie du.

Mittwoch, 25. März 2015

Hyggelig


Die Luft hier ist anders. Klarer irgendwie. Und das klingt schon wieder ziemlich abgedroschen, aber genauso ist es. Wie sollte die Luft auch sonst sein, wenn sie über dem Atlantik gewaschen wurde, über die Nordsee geflogen kam und sich nun in meine Nase verirrt hat und meine Lunge erfüllt.

Wir laufen durch die Dünen, und es ist so still, dass ich das Gefühl bekomme, in einen Eierkarton gepackt zu sein. Vielleicht bemerkt man erst, wenn nichts mehr Störendes da ist, dass selbst das Nichts so energisch und einnehmend sein kann. Nichts hören außer die Schritte im Sand, nichts sehen außer die mit Strandgras bewachsenen Sandhügel, nichts riechen außer die magische Luft, nichts fühlen außer die Sehnsucht endlich das Meer zu erblicken.

Die Trampelpfade schlängeln sich hinauf und hinab, mit jeder kleinen Kuppe wächst das Verlangen, und als wir endlich einen schmalen Streifen tiefen Blaus am Horizont entdecken, erfüllt uns das ewig währende Gefühl, das sich auch beim Feuerwerk zum Jahreswechsel und beim ersten Biss in die ersten Erdbeeren des Sommers einstellt. Mitten im Bauch, klein und kribbelnd: Das Glück.


Montag, 9. Februar 2015

Die blaue Lagune

Das Erste, was ich sehe, sind ihre großen Brüste. Sie steht vor mir, komplett nackt. Hält mir ihre pralle Oberweite entgegen, während ich krampfhaft versuche mich in der wasserdampfgefüllten Umkleidekabine zu orientieren. Ich schaue ihr in die Augen, wohin auch sonst, und sie wirft mir einen Blick aus Arroganz und Mitleid zu, den ich nicht recht deuten kann.

In ein weißes Handtuch gewickelt, gehe ich nach draußen, die Sonne scheint, der Wind treibt die Wolken am Himmel umher, es ist Juni, das Thermometer zeigt 14 Grad. Vor mir erstreckt sich ein hellblauer Milchsee, der von einer unwirklichen schwarzen Felswüste gerahmt wird. Im Wasser stehen vereinzelte Gestalten, sie streifen ziellos umher, eine merkwürdige Ruhe liegt über diesem wundersamen Sumpf aus Algen und Kieselerde, von dem beständige Dampfwolken aufsteigen.
Ich lege das Handtuch auf die Felsen, stehe kurz da, weinroter Bikini auf weißer Haut, und steige dann die Treppe in den heißen Tümpel hinab. Die Wärme umgarnt mich, zieht mich zu sich, ich beginne ebenso orientierungslos wie alle anderen durch das Wasser zu wandern. Automatisch bin ich Teil einer sich langsam bewegenden, riesigen Amöbe.
Hin und wieder stoße ich mir die Zehen an den scharfen Felskanten, die unbemerkt auf dem Grund auf mich lauern. Ich bin ein leichtes Fressen. Phlegmatisch lege ich mich auf einen Steinvorsprung, der Ort bedeckt mich mit einem warmen Zauber und mit dem größten Vergnügen lasse ich mich von ihm einlullen.

Er steht in der Mitte des Sees, trägt eine blauspiegelnde Sonnenbrille, lacht zu laut für diesen stillen Ort, hält sich sein Smartphone vor's Gesicht und dreht sich im Kreis. Ich starre ihn an. Nach einer Zeit bemerkt er meinen Blick, sieht mich an, seine weißen Zähne funkeln mich: "Say 'Hi!' to Brazil", sagt er und schwenkt sein Handy zu mir. Intuitiv reagiere ich auf sein Kommando, winke und grinse, und frage mich zur selben Zeit, was ich hier eigentlich gerade tue.

Er verschwindet so unvermittelt, wie er aufgetaucht war, hinterlässt nur Ruhe und eine nebulöse Wolke aus Wasserdampf. Ich streife wieder durch das Wasser, vernehme Stimmen, unterschiedliche Sprachen, meine Fingerspitzen sind schon schrumpelig, gedankenverloren lasse ich mir vom frischen, fast arktischen Wind den Kopf kühlen, während mein Körper immer noch die Wärme atmet. Vor mir steht ein breitschultriger glatzköpfiger Mann mit einem riesigen farbenprächtigen Drachen auf dem Rücken, als er sich umdreht, erkenne ich den Kopf des Drachens auf der Brust des Mannes. In dem Moment, als er mich fragend ansieht, fällt mir auf, dass ich seine bunte Haut einen Augenblick zu lang begutachtet habe. Schnell wende ich mich von ihm ab und stoße im Gehen beinahe mit einem anderen zusammen.

Seine blauverspiegelte Sonnenbrille erkenne ich sofort wieder. Er lächelt mich an und ich schaue mit einem schüchternen Lächeln zu ihm hinauf. "Meine Familie ist in Brasilien", erklärt er von sich aus. "Ein traumhafter Ort ist das hier, findest du nicht?", fragt er, ohne eine Antwort zu erwarten. Dann stellt er sich vor, nennt seinen Namen, ich nenne meinen, wir unterhalten uns. Er könnte mein Vater sein, die graumelierten Haare trägt er über den Kopf nach hinten gekämmt, seine muskulösen Arme zieren einige Tattoos.
"Kommst du mit zu meinen Freunden?", seine Frage scheint mehr eine Aufforderung zu sein. Ich folge ihm artig durch das Wasser und finde mich plötzlich neben dem Drachen und den riesigen Brüsten wieder. Daneben noch weitere Personen, sie schlürfen teure Cocktails und beachten mich nicht weiter. Ich kann nicht herausfinden, in welcher Verbindung diese Leute zueinander stehen und merke, wie mich die Tatsache, dass ich sie nicht ergründen kann, nervös macht. Er kennt mich keine fünf Minuten und erzählt mir jovial, dass er morgen eine Helikoptertour an der Küste machen will. "Mit inszeniertem Absturz und Rettungsaktion", ergänzt er und lädt mich im gleichen Atemzug dazu ein. Dann deutet er auf die Frau mit den großen Brüsten und ihren Begleiter, einen dünnen schwarzhaarigen Mann. "Er hat sich gestern mit ihr unter einem Wasserfall verlobt, romantisch, oder?". Ohne die Verlobung der beiden weiter zu kommentieren, schlage ich das Angebot eines gemeinsamen Helikopterfluges aus. "Ich muss gehen", sage ich.

Er begleitet mich noch ein Stück durch das Wasser, wir stehen uns gegenüber und verschlucken uns an oberflächlichen Floskeln, die man sich sagt, wenn man sich nur kurz kennen gelernt hat, sich nie wiedersehen wird und sich aber trotzdem sympathisch findet. Dann streckt er seinen Arm zu einer Umarmung aus, die sich im Wasser näher anfühlt als sie es in der Luft je könnte. Küsschen rechts, Küsschen links. Und dann verliert seine Wange ihren Halt an meiner Wange und sein Biss verirrt sich für nur einige Sekunden in meinen Nacken.
Ich drehe mich um und gehe, blicke nicht mehr zurück, steige aus dem Wasser, der kalte Wind empfängt mich, ich wickel mich in das Handtuch und renne mit einer unglaublichen Gänsehaut zurück in die Umkleidekabine.

Montag, 2. Februar 2015

Zwätzen Schleife


Straßenbahnen sind für mich Freud und Elend zugleich. Begegnen sie mir auf der Straße, nehme ich Reißaus, denn sie erscheinen mir unberechenbar, obwohl sie doch auf den ewigselben Gleisen rattern. Viel zu oft haben sie mich fast erwischt, viel zu oft haben sie mich zudringlich von der Straße geklingelt, viel zu oft konnte ich den rettenden Bahnsteig nur noch mit einem Hechtsprung erreichen.

Das Bild ändert sich, sobald sich die Türen vor mir öffnen und ich einen ganz eigenen Mikrokosmos betrete. In der Tram treffen sich die Menschen einer Stadt, sie müssen sich gegenüber sitzen, müssen, gerade zu den Stoßzeiten, ganz nah aneinander heran rücken und drängen einander ihre Telefongespräche in die Ohren oder ihr Mittagessen in die Nase.
Ich fahre gern mit der Straßenbahn, ich mag es, wie sie ein Netz durch die Stadt spannt und Menschen und Orte miteinander verbindet.

Es ist ein perfekter Sonntag, trist und grau. Man ahnt, dass es jederzeit regnen könnte. Wenn ich bei dir bin, dann fahren wir zusammen mit der Straßenbahn. Wir haben uns den besten Zeitpunkt ausgesucht, nehmen die Tram in Richtung "Zwätzen Schleife". Einige Leute fahren mit uns in den Norden Stadt, wir lassen das Zentrum hinter uns, die Häuser werden kleiner und die Hügel größer. Im Sommer ist es hier sicher ganz idyllisch, denke ich. Im Winter ist es ziemlich trübselig, stelle ich fest.

Er starrt uns an. Er macht das seit einer gefühlten halben Minute, wir haben aus dem Fenster geschaut, uns nichts anmerken lassen und haben einfach weiter geplappert. Ich habe versucht, seinen Augen auszuweichen, aber dann treffen sich unsere Blicke und er fängt an laut, rau und überzogen zu lachen. Unweigerlich muss ich grinsen.
Er hat einen Borstenschnitt, wilden, vergilbten Bartwuchs, sein Gesicht ähnelt dem eines Walrosses. An seinen Lippen klebt ein Tetrapack Rotwein, er nimmt einen Schluck und erzählt mit tiefstem sächsischen Dialekt, dass er einst mit der Fremdenlegion in Hongkong war. "Eine harte Zeit", sagt er, und ich bin mir nicht sicher, ob er das gerade sich selbst oder uns weismachen will.
Dann schaut er uns an, erklärt, dass er eigentlich Franzose sei. "Wenn du den Arsch voll Tränen hast, musst du trotzdem lachen", zitiert er salopp ein französisches Sprichwort, zumindest gibt er vor, dass das ein französisches Sprichwort ist.

Die Bahn tuckert weiterhin unbeirrt die Berge hinauf, während wir angestrengt aus dem Fenster starren und uns unterhalten. Zwischendurch werden wir immer wieder von einem bollernden Lachen unterbrochen. Er sieht mich eindringlich an und sagt: "Man nennt mich den schwarzen Panther, manche Menschen meinen, ich hätte keine Seele".

Glücklicherweise erreicht die Bahn in diesem Moment die Endstation und bevor es uns zu gruselig wird, hüpfen wir schnell aus der Tram, rennen den Berg hinauf und drehen uns nicht um. Der Regen landet fein auf unseren Gesichtern, und ich muss grinsen, weil die Straßenbahn uns nicht nur an abenteuerliche Orte bringt, sondern uns genauso abenteuerliche Menschen vorstellt.

Samstag, 10. Januar 2015

Jungs wie du



Wir fahren mit der Straßenbahn durch die halbe Stadt, du setzt dich nach jedem Umstieg neben mich, auch wenn du die Möglichkeit hättest, dir einen anderen Platz zu suchen. Wir schweigen. Ich schaue aus dem Fenster, die Sonne scheint. Nach einer Zeit frage ich dich, ob du weißt, wie es gleich abläuft. "Ja", sagst du. Die komplette Fahrt über bleiben wir still. Dann steigen wir aus, du fragst nach meinem Feuerzeug, wir stehen in der Sonne, du steckst dir eine Zigarette zwischen die Lippen, wir sind beide ein bisschen unschlüssig, ich hocke mich auf ein Geländer, du lehnst dich an einen Stromkasten. Deine Beine zappeln, und dafür, dass es immer wieder in einschlägigen Zeitungen heißt, Jungs wie du hätten keine Angst mehr vor der Polizei, wirkst du ziemlich nervös.
Als du fertig bist, nickst du mir zu. Wir gehen zum Eingang, du kennst den Weg.

Über dem Schreibtisch des Polizisten hängen an der Raufasertapete zwei Kinderzeichnungen. Zwei Bilder, DIN A4, Querformat. Auf jedem Papier findet sich ein großes dickes Buntstiftherz, darunter das Wort "Baba". Davon abgesehen ist der Raum kahl, keine persönlichen Gegenstände, dafür ein großer Wandschrank voller Beweismittel. Es ist eng in dem kleinen Büro, die Tür lässt sich nicht mehr öffnen, wenn vier Personen darin sitzen.

Der Polizist weist uns die Stühle zu, du in der Mitte, ich links von dir, der Dolmetscher rechts von dir. Uns gegenüber nimmt er selbst Platz. Die Vernehmung beginnt, die Wahrheit ist eine Geschichte, oder die Geschichte deine Wahrheit, zumindest betont der Polizist immer wieder, dass er dir nicht glauben würde, denn die Beweise sprechen gegen dich.
Mein Blick schweift immer wieder zu den Bildern an der Wand, während der Polizist das Verhör am Computer verschriftlicht. Ich frage mich, ob du deinem Vater auch einmal solch ein Bild gemalt hast, ob man dir überhaupt jemals Buntstifte gegeben hat, ob du überhaupt weißt, wer dein Vater ist.

Ich bin mir nicht sicher, ob das rhetorische Finesse ist oder nur plumpe Aggression, als der Polizist plötzlich laut wird und sagt "Mir reicht's", mit dem Finger auf dich zeigt und dir eine letzte Chance gibt, die Wahrheit zu sagen. Aber ich bin mir sicher, dass es einem Dolmetscher nicht gestattet ist, zu sagen, dass Jungs wie du den Ruf seines Volkes durch den Dreck ziehen. Also melde ich mich zum ersten Mal nach den vergangenen sechzig Minuten zu Wort.
"Sie sind doch Deutsche, sie wissen doch gar nicht, wie das ist", höre ich. Ich frage mich, was "das" sein soll und denke, dass zur Zeit einige Menschen, die deutsch wie ich sind, auf die Straße gehen und eine "Null-Toleranz-Politik" für Jungs wie dich fordern.

Nach 90 Minuten stehen wir wieder im Sonnenschein, ich drücke dir mein Feuerzeug in die Hand und sage "Geschenk". Dann rauchst du erstmal. Die sogenannte Wahrheit ist nun ein Textdokument mit deiner Unterschrift.
Wir fahren zurück, du sitzt wieder neben mir. Wir fahren immer noch schweigend, steigen um und aus. Nebeneinander gehen wir die letzten Meter, wir laufen auf gleicher Schritthöhe. Dann schließe ich die Tür auf, zu meiner Arbeit, zu deinem ersten gefühlten, ja, was denn eigentlich, vielleicht Zuhause seit langer Zeit. "Dankeschön", sagst du und schaust mich dabei an.

Ich habe dich mal gefragt, was du dir wünschst. Du hast gesagt, dass du gern deine Freundin heiraten möchtest. Vielleicht sind das die Träume, die man hat, wenn man ein Junge ist wie du.