Freitag, 30. Mai 2014

Marmelade in Warschau



Die Mittagssonne knallte mir durch die Schädelknochen, während ich durch Praga streunte. Am rechten Weichselufer Warschaus gelegen, posaunte mein Reiseführer, dass hier Weißrussland beginne. Dieser Stadtteil sei von der Stadt vergessen. Der perfekte Ort also, um sich selbst zu vergessen.

Ich lief eine lange Straße hinunter, immer geradeaus, jeder Schritt ein weiteres Stück ostwärts. An mir zogen Friseurstuben mit Blümchengardinen, kleine Korridorkioske, Marienstatuen in Glaskästen und Geranienkübel vorbei. Der Bürgersteig war eine Mischung aus Steinplatten und Teer, dazwischen unzählige Risse. Dann tauchte links von mir ein riesiges Gebäude auf und ein noch größeres umzäuntes Gelände, auf dem sich der brüchige Backsteinhaufen befand. 

Das Tor war geöffnet, und mein Reiseführer teilte mir mit, dass sich vor mir eine ehemalige Marmeladenfabrik befand. Ich betrat das Gelände, lief ziellos umher, und stellte bald fest, dass ich ganz allein war. Erfolgreich hatte ich mich irgendwo im Nirgendwo verloren.
Und dann hörte ich plötzlich Joe Cocker.

Ich musste eine Weile überlegen, ehe ich den Song erkannte. Ich hatte dieses Lied schon lange nicht mehr gehört, aber als Joe Cocker mit seiner knödeligen Stimme zu singen begann, wusste ich, dass just like you - i was such a rebel - so dance your own dance - and never forget, dass diese Zeilen unvergessen waren. N'oubliez jamais.
Gespannt lief ich um eine Häuserecke, hinter der ich die Musik vermutete. Und ich wurde nicht enttäuscht. Vor mir war eine Lagerhalle geöffnet, daraus drang das Lied nach draußen und inmitten der dunklen Halle stand ein Mann. Natürlich war es nicht Joe Cocker, aber er war ungefähr in dessen Alter.

Seine drahtige Gestalt bewegte sich auf mich zu, und zum Vorschein kam ein dünner Mann mit weißem Vollbart. Er trug eine Kapitänsmütze und eine kreisrunde schwarze Sonnenbrille. Er begrüßte mich herzlich und lud mich ein, mich genauer in seiner Lagerhalle, einer skurrilen Mischung aus Museum, Atelier und Bar, umzusehen.

Er verschwand in den Untiefen der Fabrik, kam wieder und reichte mir Datteln. Ich fühlte mich wie ein Schiffbrüchiger, der nach Tagen der Ungewissheit plötzlich eine paradiesische Insel erreicht hatte. - Und dabei handelte es sich um eine ehemalige Marmeladenfabrik in Warschau.

Sonntag, 18. Mai 2014

Flohmarkt



Sonntag. Und der Tag hält endlich, was er so sehr verspricht, was er in seinem Namen trägt: Sonne. Als ich aufwache, scheint sie schon hell ins Zimmer. Nichts macht mehr Sinn an solch einem Sonnentag, als nach draußen zu gehen. Also tun wir das.

Auf dem Flohmarkt sind unglaublich viele Menschen, und als wir durch das Tor gehen, schaue ich dich an und sage: "Ein Panoptikum der besten Sorte". Und damit meine ich nicht den Krempel, der hier verhökert wird, sondern die Leute.
Kilometerlang ziehen sich die Tische, randvoll bedeckt mit Plüschtieren, Kaffeetassen, Büchern, Kleidung, Antiquitäten und solchen, die es sein wollen. Es wird auf gefühlten tausend Sprachen gehandelt und die Luft riecht nach Dachboden oder Keller, obwohl wir auf einer riesigen Wiese spazieren.

Manchmal frage ich mich, wie viele Häuser es braucht, um all diese Sachen aufzubewahren. Welche Geschichten die Dinge erzählen, und wem sie mal etwas bedeutet haben. Und wer froh ist, endlich diese ganzen Erinnerungen los zu sein. Manchmal frage ich mich, warum wir unsere Herzen an Sachen hängen. Vielleicht, weil sie nur kaputt gehen können. Aber einem niemalsnie weh tun werden. Außer man findet sie nach Jahren wieder. Irgendwo verstaubt in einem Karton. Dann kann ein einziges Foto eben doch ins Herz schneiden.

Die Sonne brennt sich in unsere Haut hinein, und wir schlendern an den Ständen vorbei. Ich schaue mir den Wust an Plunder an, und denke, dass Flohmarkt eben nicht nur Kaufen und Verkaufen ist. Es ist geduldete, ja gar gewollte Schnüffelei. Denn mal ehrlich: Wen interessiert es nicht, was andere Leute so in ihren Schränken haben? Sehen, was andere so um sich horten? Welchen Sammelleidenschaften sie nachgehen? Man kann ja nicht einfach beim Nachbar an der Tür klingeln und sagen: "So, ich will jetzt aber mal in ihren Schrank schauen, wollte schon immer mal wissen, was es da so gibt". Nein. Das traut man sich nicht. Aber auf dem Flohmarkt, da ist das erlaubt. Da darf man sich sogar die besten Stücke raussuchen und dann in den eigenen Schrank stellen. Und selbst, wenn es nicht der Nachbar ist. Man duzt sich beim Handeln. Und bekommt, mit ein bisschen Glück, die Geschichte zur soeben erworbenen Kaffeedose gleich mit dazu.

Nach einer Stunde beginnen meine Füße angenehm zu schmerzen und wir gehen wieder nach Hause. In meiner Tasche befindet sich ein Foto. Schwarz-Weiß, ausgeblichen. Kind mit Finger im Mund. Ohne Geschichte. Die muss ich mir erst noch ausdenken. Woran ich mich aber erinnern werde, wenn ich dieses Foto nach einigen Jahren aus einem verstaubten Karton ziehen werde: Sonne, Sonntag, Flohmarkt, du und ich. Und das Foto wird mir nicht ins Herz schneiden, sondern mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Das geht nämlich auch.


Mittwoch, 14. Mai 2014

Eiswürfel



Ich lache verhalten. Du gibst dir einen Ruck. Zwischen uns der Tisch. "Zum Glück", denke ich. Du lehnst dich zu mir. Ich nehme mein Glas. Es ist leer. "Willst du noch was trinken?", fragst du. Ich sage hastig: "Nein". Du greifst meine Hand. Ich ziehe sie weg. - "Was hast du denn?".

Ich schweige.

Du kommst immer näher. Mit deinem Kopf, deinen Worten, deinen Gefühlen. Auf dem Glasboden ist ein Eiswürfel. Ich mache den Mund auf und kippe mir den kalten Klumpen hinein. Meine Zunge erfriert. Du guckst mich an. Ich schiebe den Würfel von der einen Wange in die andere. Und wieder zurück. Du guckst immer noch. Alles schmilzt. Ich habe eine Pfütze im Mund. Dann schlucke ich sie runter. Sie fließt in mich hinein. Durch mich durch. - "Was ist nur los mit dir?".

"Zu wenig", antworte ich kaltblütig.

Donnerstag, 8. Mai 2014

Katzen in St. Petersburg



Beim Aufräumen entdeckte ich die CD. Ich hatte sie nie gehört und so rutschte sie wohl mit der Zeit immer weiter nach hinten in den Schrank hinein. Als ich sie unter einer Staubdecke hervor zog, starrte ich für einen Augenblick verwirrt auf die Plastikhülle. Dann kam die Erinnerung wieder.

Ich saß in Sankt Petersburg in einem kleinen Restaurant in einer Seitenstraße des Newski Prospekts und aß einen Salat. Der Preis entsprach dem Geld, das eine Person in den Außenbezirken der Stadt für eine Woche zum Leben hatte.
Ich war beinahe allein in dem Restaurant, ich hatte einen Platz direkt am Fenster und konnte die vorbei ziehenden Menschen beobachten. Es dämmerte leicht, und ihre Silhouetten waren nicht mehr klar umrissen. Die Geister der Stadt huschten vorbei.

Im Restaurant, so hatte es zumindest den Anschein, lebte eine Katze. Sie saß neben mir am Tisch und zwinkerte mir unablässig zu. Noch nie zuvor war mir eine zwinkernde Katze begegnet, aber mir war auch noch nie eine Katze im Restaurant begegnet. Also nahm ich die Begebenheit einfach an und überlegte noch, ob sie vielleicht ein Augenleiden hätte.
Ein leises Klavierklimpern war zu hören, und ich konnte den Barkeeper sehen, wie er langsam und automatisiert Gläser abtrocknete. Die Katze verschwand hin und wieder, drehte ihre Kreise durch das Restaurant und setzte sich dann doch wieder zu mir und zwinkerte.

Ich hatte meinen Salat aufgegessen und legte das Besteck zur Seite. Dann trank ich den letzten Rest Jasmintee aus meiner Tasse. Der Kellner, der mir zuvor noch das Essen gebracht hatte, war verschwunden. Also ging ich zum Barmann und sagte ihm auf rudimentärem Russisch, dass ich gern bezahlen möchte. Er antwortete, dass gleich jemand kommen würde, also setzte ich mich an die Bar und wartete.
Eine Kellnerin und ein dünner Mann mit beigefarbenem Poloshirt, olivgrünen Sakko und einem rausgewachsenen Haarschnitt kamen zum Bartresen. Die Kellnerin lächelte freundlich-entschuldigend und kassierte. Der Mann stellte sich zu mir und sich vor. "Pavel" war sein Name, er drückte meine Hand, lächelte und gab den Blick auf seine gelben Zähne frei. Er sprach schnell und gab sich keine Mühe, langsamer zu sprechen, selbst als er bemerkte, dass ich mit meinem Russisch nicht hinterher kam.

Er erzählte, dass er Pianist in dieser Bar sei. Ich lauschte und stellte fest, dass die Musik wirklich verstummt war. Er griff in die Innentasche seines Sakkos und drückte mir eine CD in die Hand. Die sei von seiner Band. Im Gegenzug fragte er nach meiner Handynummer. Ich schüttelte lächelnd den Kopf und versuchte mich schnell zu verabschieden.
Pavel nahm nochmals meine Hand und sagte: "Do swidanja". Dabei zwinkerte er. Ich erkannte einen fadenscheinigen Zusammenhang und hatte plötzlich ein unangenehmes Gefühl im Bauch.

Als ich ging, blickte ich ein letztes Mal ins Fenster. Dort saß die Katze und schaute mir nach.